Autotour nach Armenien Teil 3: Der Süden und Yerevan
Mehr als drei Wochen sind Wolfgang und ich inzwischen auf unserer Autotour durch den Westbalkan und die Türkei bis Armenien unterwegs. Nach viel touristischer Arbeit in der dritten Woche in den armenischen Provinzen Lori und Tavush im Norden Armeniens haben wir uns nun Wellness und Entspannung verdient. Dafür gibt es für uns keinen besseren Ort im Land als Jermuk in der Provinz Vayods Dzor im Süden des Landes. Lediglich einen weiteren Abstecher in das subtropische Meghri an der armenisch-iranischen Grenze haben wir noch eingeplant, bevor es Ende Mai schließlich nach Yerevan gehen soll.
Dass unser Wellness-Aufenthalt in Jermuk ein klein wenig abwechslungsreicher wird, als wir ursprünglich dachten, liegt an der EU Mission Armenia, die sich in Jermuk im gleichen Hotel wie wir einquartiert hat. Von der Mission der EU, die auf Bitten der armenischen Regierung die armenisch-aserbaidschanische Grenze beobachtet und Sicherheitsvorfälle protokolliert, hatten wir gehört. Angehörige dieser Mission im Whirlpool zu treffen hatten wir aber doch nicht erwartet. Trotz gelegentlicher Wellness-Einheiten ist die Mission absolut kein Zuckerschlecken, berichtet uns eines der Mitglieder morgens vor dem Aufbruch zur Patrouille. Wenn die gepanzerten Offroad-Fahrzeuge anderweitig gebraucht werden, dann steigen sie mitsamt Ausrüstung jeden Tag zu Fuß auf einen Berg am Rande des Ortes, um von dort aus die Grenze zu beobachten. Damit man das schafft und fit genug bleibt, kann man auch nicht das gesamte Angebot der all inclusive Verpflegung des Resorts genießen, zeitlich würde das sowieso nicht aufgehen. Gut, dass wir im Urlaub in Jermuk sind.
Staatsgeheimnisse verrate ich damit natürlich nicht. Im Gegenteil informiert die EU Mission Armenia recht vielfältig über ihre Aktivitäten, auf X (Twitter) kann man sich über die Mission sehr detailreich auf dem Laufenden halten, eine Webseite und einen LinkedIn-Kanal gibt es auch.
We patrol along the intl. recognized borders between Armenia and Azerbaijan from 3 hubs in Goris, Jermuk & Martuni. Remaining 3 hubs in Kapan, Ijevan & Yeghegnadzor will open in near future. #EUMA aims to contribute to creating safe & stable environment in conflict-affected areas pic.twitter.com/joQ9SunWR6
— EUmissionARMENIA (@EUmARMENIA) June 8, 2023
So brechen wir nach zwei Tagen morgens zufälligerweise gemeinsam mit einem Jeep-Konvoi der EU-Mission auf, auch wenn sich unsere Wege unterwegs sehr bald wieder trennen. Wolfgang und ich wollen erneut nach Meghri an die armenisch-iranische Grenze, dort wo das Klima schon subtropisch ist, die Berge spitzer in den Himmel ragen und die Gärten noch üppiger grünen als im Rest des Landes.
Auch ein Wasserfall im Naturschutzgebiet steht dort unten auf unserem Programm. Doch leider müssen wir den Besuch dieses Wasserfalls ebenfalls unter den Vorhaben verbuchen, die auf unserer Tour nicht geklappt haben. Schuld daran ist nicht Google Maps, sondern meine unzureichende Planung. Hätte ich die Angaben in meinem fünf Jahre alten Reiseführer noch mal überprüft und mit aktuellen Informationen im Internet abgeglichen, hätte ich gewusst, dass die Straße dorthin derzeit gesperrt ist. So erfahren wir dies von zwei ausgesprochen höflichen und freundlichen armenischen Soldaten am geschlossenen Kontrollpunkt. Sie bedauern sichtlich, dass zwei ausländische Touristen, die einen weiten Weg hinter sich haben, die Schönheiten ihres Landes nicht weiter entdecken können. Aber es hilft nichts, wir tuckern zurück nach Meghri. Unterwegs überlegen wir ernsthaft, ob wir vielleicht nicht doch einen Tag früher zurück nach Jermuk fahren sollen, denn Meghri kennen wir ja eigentlich schon. Nun, immerhin eine der drei Kirchen des Ortes, ausgestattet mit Fresken und malerisch am Hang mit Aussicht über das Tal gelegen, haben wir noch nicht besichtigt.
Daneben gibt es noch einen weiteren Grund, warum wir noch in Meghri bleiben, Suzi wartet am Abend auf uns! Suzi ist Kellnerin und arbeitet in dem Restaurant, das zum Hotel gehört, in dem wir übernachten. Als wir am Tag zuvor angekommen waren, hatte man uns zwar dort bereits erwartet und sehr freundlich begrüßt, nur Englisch kann in dem kleinen Familienhotel gerade niemand. Dank Händen, Füßen und Google Translate kommen wir damit zwar zurecht, aber die Rezeptionistin ruft trotzdem zur Sicherheit noch Suzi an, die extra nachmittags vorbeikommt, um sich mit uns über das Abendessen und das Frühstück zu unterhalten. Suzi hat in Meghri in der Schule Deutsch gelernt und packt nun alles aus, was sie davon noch weiß. Jedes Lebensmittel, dass ihr einfällt, fragt sie ab, ob wir es essen oder trinken möchten. Auch die Essenszeiten macht sie mit uns klar. Dabei ist sie sehr nett und nicht nur freundlich, sondern spürbar begeistert, mal deutsche Gäste zu treffen und ihre Sprachkenntnisse anzuwenden. An unserem ersten Abend im Hotel-Restaurant feiert eine Armenierin groß Geburtstag, zwischendurch klingeln uns die Ohren, wenn der DJ die Musik aufdreht. Dafür ist das Essen lecker, Suzi eine sehr aufmerksame Kellnerin und am Ende spendiert uns das Geburtstagskind sogar noch einen Obstteller und eine Flasche Wein. Wir erklären Suzi, dass wir am nächsten Abend wiederkommen und dasselbe essen möchten. Wie hätten wir da Suzi enttäuschen können?
Nach einem zweiten, ebenso lauten Geburtstags-Abendessen in Meghri, weiteren Wellness-Einheiten in Jermuk, dazwischen ein paar Kloster-Zwischenstopps, kommen wir schließlich zur vierten Woche unserer Reise Ende Mai rundum erholt in Yerevan an.
Nachdem Wolfgang und ich die letzten Wochen eher der Vergangenheit Armeniens hinterhergestöbert haben, setzen wir nun in Yerevan auf ein Kontrastprogramm, aktuelle Kulturerlebnisse haben wir uns vorgenommen. 2015 und 2016 waren wir oft zusammen in der Oper, das wollen wir nun wiederholen. Immer wieder hatte ich die Webseite der Oper besucht, doch bis das Programm für Ende Mai online war, musste ich bis ins Frühjahr hinein warten. Dafür bekommen wir etwas umso Spannenderes zu hören und zu sehen, ein modernes Ballett namens „Gravity“ mit Musik des zeitgenössischen armenischen Komponisten Vache Sharafyan. Die Musik ist bewegend, von verträumt und poetisch bis dramatisch und furios. Die Inszenierung enthält so manche eindringlichen Szenen, ein paar davon kann man in diesem Teaser-Video bewundern:
Obwohl wir uns vorab ansonsten wenig über das Stück informiert haben, können wir der Handlung gut folgen, so ausdrucksstark wirken Musik, Tanz und die Inszenierung zusammen. Die armenischen Zuschauer haben es noch einfacher, denn „Gravity“ beruht auf einem berühmten armenischen Theaterstück namens „Ancient Gods“.
Eine weitere Wieder-Entdeckung in Yerevan ist für mich ein Spaziergang durch das alte Stadtviertel Kond. Pittoresk und anders war das Viertel schon früher, denn mehrere Generationen von Stadtplanern hatten Kond immer nur am Rande berücksichtigt. Pläne zum flächendeckenden Abriss des alten orientalischen Stadtteils auf einem Hügel westlich der Innenstadt von Yerevan gab es zwar mehrfach, jedoch wurden sie nie umgesetzt.
Als ich im März 2016 das erste Mal durch Kond bummele, ist es lediglich ein etwas vernachlässigtes, sehr ursprüngliches Viertel, das an die mittelalterliche Geschichte Yerevans erinnert. Inzwischen hat sich das geändert, Kond ist Trend. Zu verdanken hat das Stadtviertel dieses Phänomen Street-Art-Künstlern aus aller Welt, die seit 2018 die grauen Wände in den verwinkelten Gässchen für sich entdeckt haben. Einen Eindruck davon bekommt man beispielsweise in dem Musikvideo der armenischen Sängerin und erfolgreichen Eurovision-Teilnehmerin Sirusho, die 2019 in Kond diesen Clip dreht:
Ein Street Art Fan bin ich schon länger, Yerevan hatte in dieser Hinsicht allerding lange Zeit bei weitem nicht so viel zu bieten wie etwa Berlin, Tel Aviv oder Oaxaca. Das Stadtbild von Yerevan war - und ist - geprägt von „offizieller“ Street Art, beispielsweise Porträts von berühmten armenischen Künstlern. Allgegenwärtig sind auch die bunt bemalten „Dalans“, die Hofeinfahrten überall in der Stadt. Hier hat die Stadtverwaltung die Bemalung angeordnet, die Ergebnisse sind meist recht hübsch, haben allerdings oftmals wenig Bezug zur Umgebung, die Motive wirken für mich eher naiv bis belanglos.
Da ich von früher noch weiß, wie labyrinthisch die Wege durch das alte Kond sind, suche ich mir für meine Entdeckungstour professionelle Hilfe und buche eine „alternative walking tour“ durch Kond. Mein armenischer Guide Vako kennt nicht nur das Viertel in- und auswendig, er ist auch selbst Designer und kann mir viele interessante Dinge über Street Art in Armenien erzählen. Diese zeichnet sich vor allem durch einen starken Bezug zur armenischen Geschichte und Kultur aus, stilisiert Symbole wie den Berg Ararat oder die armenische Schrift. Zwischen modernen, abstrakten Werken findet sich auch mal eine antike armenische Königin. Neben Künstlern und Designern sind zudem Studierende der TUMO Studios in Kond aktiv und interpretieren alte armenische Motive in modernisierten Formen auf Bauzäunen und Hauswänden.
Verbindendes Element der Werke in den sozialen Medien sind die Hashtags #kondgallery und #yerevantropics. Wobei Yerevan natürlich nicht in den Tropen liegt, der Widerspruch ist ein Hinweis auf den Humor und die Provokation von Street Art, erklärt mir Vako. Politisch provokativ ist armenische Street Art allerdings weniger, ein gewisser Unterschied zu vielen anderen Werken weltweit.
Ich frage Vako, wie die Bewohner des Viertels es finden, dass Street-Art-Künstler ihre Hauswände bemalen und die Touristen dieser Spur folgen. Anfangs hielt sich die Begeisterung in Grenzen, erzählt er. Aber zunehmend merken die Anwohner, wie man diesen Trend nutzen kann, es entstehen Unterkünfte am Rande des Viertels und Cafés in den alten Häusern. Mit der Beliebtheit bei den Besuchern wächst auch der Stolz der Einheimischen mit. In einem dieser Cafés, im Garten hinter einem der ältesten Häuser der Stadt, machen wir eine kleine Pause, trinken leckeren armenischen Kaffee und bekommen dazu von der Wirtin frisch geerntete Maulbeeren serviert. Das Gebäude war früher vermutlich das Haus des Mullahs, ein Gemeindezentrum oder auch beides, meint Vako.
Die frühere Moschee des Viertels besuchen wir anschließend. Vako erzählt mir unterwegs, dass die Moschee in den Fünfzigerjahren nach einem Erdbeben halb eingestürzt ist. Einige Familien sind aber trotzdem darin wohnen geblieben. Erst kürzlich hat er es bei einer Besichtigung der Moschee erlebt, dass sich eine Bewohnerin über allzu respektlose Touristen geärgert und sie aus dem Hof geworfen hat. Wir richten uns also auf eine Außenbesichtigung ein. Doch in Kond entwickeln sich die Dinge bisweilen dynamisch, inzwischen haben die Anwohner in dem alten Innenhof der alten Moschee ebenfalls ein Café eröffnet. Über eine wackelige Holzleiter kann man sogar auf den Schutthaufen klettern und in Teile der halbverfallenen Moschee hinunterblicken. Und obwohl wir den Kaffee ablehnen, da wir ja gerade vom Kaffeetrinken kommen, müssen wir wenigstens noch etwas frisch geschnittenes Obst zu uns nehmen.
Der Wirt kann neben Armenisch nur Russisch, gut, dass ich Vako an meiner Seite habe. Denn er übersetzt mir die spannende Geschichte dieses Ortes und seiner Bewohner vom Armenischen ins Englische. Die Moschee war bis 1912 in Betrieb, erfahre ich. Nach dem ersten Weltkrieg ziehen elf Familien, die vor dem Völkermord an den Armenieren im osmanischen Reich fliehen und sich nach Yerevan retten können, in die Anlage. Unser Wirt ist einer der Nachfahren dieser Familien. Nach dem Erdbeben bekommen die Familien neue Wohnungen angeboten, aber drei Familien bleiben, auch seine. Nach Ende des Sozialismus gehen die Wohnungen in ihren Besitz über. Kürzlich haben die Familien hohen Besuch bekommen, Abordnungen der iranischen Botschaft zusammen mit der Yerevaner Stadtverwaltung waren da. Sie haben den Familien angeboten, ihnen ihre Wohnungen abzukaufen, denn die iranische Regierung möchte die Anlage sanieren, dafür wurde bereits viel Geld gesammelt. Unser Wirt hat sich noch nicht entschieden, es bleibt also spannend, was sich in Kond weiterhin alles verändern wird.
Zum Abschied gibt mir Vako ein paar Tipps zu noch mehr Street Art in der Stadt mit. In der Nähe des Platzes der Republik, zentral gelegen, ist in einem Hinterhof eine Künstlerkolonie entstanden, zudem gibt es ein großes neues Mural in der Nähe der Kaskade. Am nächsten Tag mache ich mich daher auf den Weg, noch mehr neue Street Art zu entdecken.
Das Art Kvartal in der Pushkin Straße, in und hinter einem alten Bürgerhaus aus dem 19. Jahrhundert gelegen, begeistert mich sehr. Hier treffen sich Kunst und Kulinarisches, Musik und Mode, ein inspirierender Ort, zu dem ich bestimmt zurückkehren werde.
Zum Ende meiner Entdeckungstouren durch die Stadt habe ich mir eine weitere Rückkehr vorgenommen. Gegenüber meiner einstigen Wohnung in Yerevan, wo ich von 2015 bis 2018 gewohnt habe, befindet sich das Mergelyan Institut. Seit den Sechzigerjahren war es ein bedeutendes IT-Forschungszentrum, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gammelte es jahrelang vor sich hin. Während meiner Yerevaner Jahre nahm der Ort zwar wieder etwas an Schwung auf, aber anderswo ging es dynamischer zu. Inzwischen ist das anders, die Yerevaner IT start up Szene hat das Gelände und die Umgebung zunehmend in Beschlag genommen, aber das allein wäre kein Grund für eine Rückkehr gewesen. Auch diesmal war Instagram mein Wegweiser. Eine Bloggerin, die wohl auch dort oben wohnt, hatte das Foto einer außergewöhnlichen Statue auf dem Gelände des Mergelyan Instituts gepostet, die ich unbedingt in echt erleben wollte.
Statuen gibt es in Yerevan viele, meist zeigen sie berühmte armenische Künstler, Helden der Geschichte oder anmutigen Göttinnen. Die „Muse der Kybernetik“ fällt jedoch aus dem Rahmen, modern, ausdrucksstark und leidend, zwischen Aufbruch und Absturz liegt sie auf ihrem Sockel.
Warum ich die Statue nicht früher entdeckt habe, obwohl ich öfters auf dem Gelände des Instituts war, wird mir nach einer Weile an Sucherei schließlich klar. Sie steht nicht nur in einem unauffälligen Eck im Innenhof, hohe, dichte Nadelbäume darum herum schirmen die Nackte auch noch effektiv vor bewundernden Blicken ab. Inzwischen habe ich die Information gefunden, dass die Statue, die 1972 von dem berühmten armenischen Künstler Ervand Kochar für das Institut geschaffen wurde, eigentlich prominent vor dem Gebäude platziert werden sollte. Sie fiel jedoch in den Siebzigerjahren in der Sowjetunion durch das Raster gefälliger Kunst am Bau und wurde daher im Hinterhof versteckt.
Auf meinem Rückweg entdecke ich nicht nur weitere hübsch-naive Dalans, sondern auch ein neues, großes Mural mit dem stilisierten Ararat, wie ich es auch in Kond gesehen habe. Yerevan verändert sich und es gefällt mir gut.
Einen Tag später fliege ich zurück nach Frankfurt und überhole damit Wolfgang, der fünf Tage lang von Yerevan aus mit dem Auto nach Hause fährt. Dank inzwischen mehrerer Optionen an Direktflügen von Deutschland nach Armenien werde ich sicher bald wiederkommen.
Und wer nun Lust hat, ebenfalls nach Armenien zu reisen, vielleicht sogar mit dem Auto wie Wolfgang und ich: Einige reisepraktische Tipps habe ich in einem weiteren Blog-Artikel zusammengestellt. Dazu hier mehr.
Kommentar schreiben