Meghri – die südlichste Stadt Armeniens
Wir alle leben nun in neuen Zeiten. Die alten Zeiten kommen uns zunehmend unwirklicher vor und gefühlt viel weiter weg, als sie es eigentlich sind. In den alten Zeiten hätte ich an dieser Stelle irgendwann im Frühjahr 2020 über meine Schreibwerkstatt Mitte März in Yerevan gebloggt – und die Studierenden, die sich dafür schon angemeldet hatten, gleich mit. Für Freitag, den 13. März war mein Ticket nach Armenien gebucht. Stattdessen rief am 11. März die WHO die Pandemie aus, habe ich gerade noch einmal gegoogelt.
Doch es kam noch schlimmer. Zum Ersatztermin der Schreibwerkstatt Ende Oktober 2020 war nicht nur immer noch Pandemie, die Armenier kämpften auch eine kurzen, aber umso blutigeren und verlustreichen Krieg um Karabach, bei dem sie am 9. November einen für sie sehr bitteren Waffenstillstand schließen mussten. So manche meiner Freunde und Bekannten in Armenien starben in dieser Zeit, die älteren an Corona, die jüngeren im Krieg. Aus leidvoller Erfahrung kann ich nun sagen, dass Beileid aussprechen in beiden Fällen sehr schmerzhaft ist und die Hinterbliebenen ihren Verlust und Schmerz kaum in Worte fassen können.
Doch auch in diesen schweren Zeiten ließen wir die Freundschaftsfäden zwischen Europa und dem Kaukasus nicht abreißen. Ein Gutes hatten die neuen Zeiten nämlich doch noch. Der internationale Chor, den ich 2017 mit drei Freundinnen in Yerevan gegründet hatte, verlegte seine Treffen – nun meist eher zum Quatschen, seltener zum Singen – in den virtuellen Raum. So konnte ich meine Freundinnen, Freunde und auch neue Bekannte, die nach meiner Rückkehr nach Deutschland zum Chor dazu gestoßen waren, einmal im Monat per Zoom, Messenger oder Teams treffen. Jede Plattform, die gerade am besten funktionierte, haben wir genutzt.
Im Juni dieses Jahres konnte ich in dieser Runde gute Neuigkeiten berichten: Für Mitte September hatte ich endlich wieder einen Flug nach Armenien gebucht. Zwar ohne Schreibwerkstatt, dafür standen Wiedersehen im Freundeskreis und eine touristische Neuentdeckung auf dem Programm. Mein guter Freund Wolfgang und ich hatten uns in den Kopf gesetzt, die südlichste Stadt Armeniens, Meghri, zu erkunden. Einige Jahre lang waren Wolfgang und ich zusammen kreuz und quer durch Armenien gekurvt, aber weiter südlich als bis Kapan, das ungefähr 70 Kilometer nördlich von Meghri liegt, hatten wir es beide noch nicht geschafft. Meghri ist nur zehn Kilometer von der iranischen Grenze entfernt, befindet sich auf für armenische Verhältnisse niedrigen 610 Metern Höhe und hat ein schon fast subtropisch anmutendes Klima aufzuweisen. Einige Pflanzen, wie etwa die in Armenien heißgeliebten Granatäpfel, wachsen nur dort und die Feigen aus Meghri sind ebenfalls legendär. Kein Wunder, dass hier die süßesten Früchte wachsen, denn „Meghri“ bedeutet auf Armenisch „Honig“.
Auch bei unseren Reisevorbereitungen zeigt sich, das Meghri kein Reiseziel wie jedes andere ist, denn die Anreise gestaltet sich komplizierter als ursprünglich gedacht. Nach dem Waffenstillstand um Karabach bleiben zunächst auch viele logistische Fragen rund um Grenzverläufe ungeklärt. Dies führte dazu, dass die einzige ausgebaute Straße in den Süden nach Kapan und Meghri im August auf einigen Abschnitten zeitweise von aserbaidschanischen Truppen blockiert wurde. Inzwischen ist die Strecke wieder befahrbar, rundum bewacht von aserbaidschanischen, russischen und armenischen Soldaten. Hinzu kommen nun aserbaidschanische Zollstationen für den internationalen Güterverkehr.
Wenige Wochen vor unserer geplanten Fahrt hören wir davon und beginnen, im Freundeskreis herumzufragen. Manche raten uns dringend von der Reise ab, andere glauben, dass ausländische Touristen davon gar nicht betroffen seien. Zu allem Überfluss fragt mich eine Bekannte, warum wir überhaupt nach Meghri wollten, das Städtchen sei langweilig und wir wären sicher nur enttäuscht. Wir überlegen daher einige Tage lang hin und her. Denn es gibt eine sichere Nebenstrecke durch das Landesinnere über die Berge, nur leider sind viele Kilometer davon noch nicht ausgebaut. Zudem werkeln die Armenier angesichts dieser Umstände gerade mit Hochdruck daran, die Strecke für den internationalen Frachtverkehr halbwegs fit zu machen. Google Maps ist zu dieser Alternativroute gnadenlos, für 114 Kilometer Luftlinie vom Kurort Jermuk, in dem wir Zwischenstation machen, bis nach Meghri, prophezeit es uns fünf Stunden Fahrtzeit. Wir können das kaum glauben und prüfen mehrfach nach, was allerdings an der Vorhersage nichts ändert.
Schließlich siegt unsere Neugierde und die Lust auf Neues, an einem sonnig-heißen Spätsommermorgen im September fahren wir früh los. Zügig erreichen wir über recht leere Straßen zunächst Tatev. Deutlich erleben wir schon hier die Veränderungen zu unseren früheren Reisen in dieser Gegend. Einerseits hat seit der Samtenen Revolution 2018 der Straßenbau im ganzen Land spürbar an Fahrt gewonnen, über weite Strecken rollen wir daher nun über glänzend schwarze Straßen, die vorher aus Flickenteppichen voller aufgefüllter Schlaglöcher bestanden. Andererseits begegnet uns deutlich weniger internationaler Güterverkehr als früher, auch weniger Reisebusse.
Nach Tatev, angekommen auf der Nebenstrecke, wird der Weg schmaler, steiler und kurviger, die Landschaft dramatisch schön, gleichzeitig der Verkehr umso dichter. Im Minutentakt überholen wir Baufahrzeuge, die im Schneckentempo Kies die engen Kurven hochwuchten. Bald erreichen wir die Großbaustelle, die jedoch mit hiesigen Verhältnissen in Deutschland wenig zu tun hat. Über Schotter rumpeln wir durch weiße Staubwolken an Kieshaufen vorbei, zwischen den Haarnadelkurven weiter Baufahrzeuge überholend. Irgendwann erreichen wir den Abschnitt, an der die Baustoffe aufgebracht werden und geteert wird. Hier regeln Bauarbeiter mit Fahnen den Verkehr. Bauampeln, Absperrgitter oder auch nur Pylone braucht es dafür nicht. Trotz viel Verkehr, dichten Staubwolken und Hitze funktionieren Bauen und Durchkommen gleichermaßen.
Unsere Fahrt ist nichtsdestotrotz anstrengend, nicht nur wegen der holprigen Schleichfahrt über die Schotterpiste. Die Fenster müssen wir dabei schließen und die Klimaanlage ausschalten, um nicht zu viel Staub einzuatmen. Bald schwitzen wir in tropischen Temperaturen und sind froh über jedes kleine Stückchen Schattenstrecke im Wald. Gleichzeitig sind wir uns einig, dass wir sicherlich nicht das letzte Mal hier waren. Denn die Strecke durch die herbstlichen Wälder die Hänge des Kleinen Kaukasus hinauf ist auch ästhetisch atemberaubend. Nach der Passhöhe hinunter nach Kapan werden die Landschaften noch üppiger. Ich hätte nie gedacht, dass Armenien im September so sattgrüne Gegenden aufzuweisen hat. Wenn die Strecke fertig ausgebaut ist – was in diesem Tempo sicherlich bald der Fall sein wird – wird sie für mich zu den landschaftlich schönsten des Landes zählen und zu noch mehr Entdeckungen einladen.
Erschöpft und erleichtert erreichen wir nach vielen Stunden Kapan, unsere letzte Zwischenstation vor dem Ziel. Hier soll es kurz hinter der Stadt ein schönes altes Kloster geben, das Wolfgang schon kennt und für einen Zwischenstopp empfiehlt. Wir kurven hinauf und hoffen auf eine meditative Atempause in einer menschenleeren, kühlen Kirche. Stattdessen stehen wir schon vor Erreichen der Anlage auf der schmalen Zufahrtsstraße erneut im Stau, denn gerade findet hier eine armenische Hochzeit statt! Ohne die Feierlichkeiten zu stören, drehen wir schnell eine Runde auf dem Gelände und fahren bald wieder weiter. Es gilt nämlich noch, den höchsten Bergpass Armeniens zu überqueren, bis wir am Ziel sind.
Der Meghri-Pass windet sich auf 2.535 Meter Höhe hinauf und bietet auf der Passhöhe spektakuläre Ausblicke auf Reihen blauer Bergketten. Zugleich gehört die Passstraße in der Winterhälfte zu den gefährlichsten Strecken des Landes, da sich hier die Wetter- und damit Straßenverhältnisse sehr schnell ändern können.
Wir genießen nun an diesem Spätsommertag den einsamen Weg durch die Berge umso mehr. Erneut ändert sich nach der Passhöhe merklich das Landschaftsbild. Im Tal unten angekommen umgeben bizarre, grau-gezackte Felswände Obstplantagen und Gärten, die uns an subtropische Regionen denken lassen.
Durch die Stadt Meghri fließt das gleichnamige Flüsschen und trennt die Siedlung in zwei Hälften, die sich zu beiden Seiten des Flusses die Hänge hinaufziehen. Die Hauptstraße, die sich entlang des Flusslaufs durch den Ort windet, verspricht in der Tat keine spannenden Entdeckungen, sondern besteht nur aus gesichtslosen Wohnhäusern, Tankstellen und Läden. Vielleicht hatte das meine Bekannte im Sinn, die Meghri möglicherweise bloß von der Durchreise in den Iran kannte.
Um den Ort ein wenig näher kennen zu lernen, müssen wir die Hügel hoch. Zunächst kurven wir durch den Ortsteil „Kleine Nachbarschaft“, Pokr Tagh, auf schmalen Straßen an Bauernhäusern und Gärten entlang. Irgendwann endet die Straße in einer Sackgasse, die letzten Meter bis zu unserem Ziel, der Johannes-Kirche aus dem 17. Jahrhundert, erreichen wir zu Fuß über eine verwinkelte Natursteintreppe. Unmittelbar neben der Treppe befindet sich ein Gästehaus in einem der ältesten Häuser Meghris. Die junge Betreiberin des Gästehauses erzählt uns, dass einer ihrer Vorfahren im 19. Jahrhundert die Kirche eigenhändig ausgemalt hat. Unsere Neugierde ist geweckt, denn von außen sieht der schlichte, rechteckige Bau wenig spannend aus, wenn man sonst armenische Kirchen kennt, die sich durch prächtige Vorhallen und himmelstrebende Tambours auszeichnen.
Bald drehen wir uns staunend in dem kleinen Kirchenraum. Jeder Winkel der weiß gekalkten Wände ist mit bunten Fresken bedeckt. Fröhliche Bibelszenen sind umgeben von orientalisch-persisch anmutenden üppigen Ranken und Rosetten. Der Gesamteindruck ist in seiner Farbenpracht berauschend, beim Näherkommen entdecken wir dazu noch überall neue kleine Details. Vom Gärtchen vor der Kirche bietet sich uns ein Panoramablick über das gesamte Tal, über den Fluss hinüber zur „Großen Nachbarschaft“ oder Mets Tagh. Auch dort habe ihr Vorfahre mitgewirkt, erzählt uns die Wirtin, als wir auf dem Rückweg noch mal bei ihr vorbeischauen. Sie gibt uns daher den Tipp, ebenfalls die Muttergotteskirche in Mets Tagh zu besuchen.
Wir folgen ihrem Rat und fahren durch Granatäpfel-Haine wieder hinunter ins Tal. Dort lassen wir das Auto stehen und steigen eine bequeme Freitreppe hinauf in den anderen Ortsteil. Dieser ist zwar angeblich nicht ganz so historisch alt wie Pokr Tagh, aber dafür am späten Nachmittag umso belebter. Ein bisschen wie in Südspanien treffen sich hier die Einheimischen auf der Plaza unter schattigen Bäumen und halten auf Parkbänken Schwätzchen. Auch wir setzten uns eine Weile dazu, bis wir durch schmale Gassen weiter nach oben zur Muttergotteskirche laufen.
Wobei wir uns unterwegs bis auf die allerletzten Meter fragen, ob uns Google Maps wirklich richtig lotst. Die Wege werden immer schmaler, steiler und verwinkelter, eine große Kirche können wir jedoch nirgendwo erahnen. Erst als wir schon fast vor dem kleinen Kirchplatz stehen, taucht zwischen den Häusern der Kirchturm auf. Umgeben von den typischen alten Mehgri-Häusern mit ihren Holzbalkonen versteckt sich die Kirche fast vor uns. Umso größer wirkt dafür der hohe, erneut prächtig ausgemalte Innenraum. Ein Junge verkauft uns Kerzen, eine junge Frau kommt zum raschen Feierabend-Gebet vorbei. Wir wandern von Freske zu Freske und lassen uns schließlich ein wenig zur Einkehr auf der Kirchenbank nieder. Ein ebenso schöner wie friedlicher Ort.
Irgendwann müssen wir doch wieder hinuntersteigen, denn das Abendessen wartet auf uns. Wir haben Fisch in einem Lokal auf dem Fluss vorbestellt. Ja, wirklich „auf“, denn der Gastraum liegt unmittelbar über dem Wasser, Glasscheiben im Boden geben den Blick auf den Grund und das Wasser des Meghri frei. Die Eingangshalle des Lokals, bestehend aus Säulen und riesigen Fenstern dazwischen, erinnert an einen griechischen Tempel. Passend dazu nennt sich das Restaurant Phalanga, also Phalanx im Deutschen. Insgesamt eine kuriose Mischung, wie ich sie in Armenien bislang kaum erlebt habe. Der Fisch war übrigens auch lecker.
Meghri hat uns gezeigt, selbst in der abgelegensten Provinz Armeniens lässt sich immer noch Neues entdecken. Wir wollen jedenfalls unbedingt wieder kommen und dann neben dem Städtchen zudem das nahe gelegene Naturschutzgebiet erkunden. Neue Zeiten brauchen auch neue Ziele – die werden uns in Armenien so schnell nicht ausgehen.
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Brigitte Wieman (Samstag, 30 Oktober 2021 11:55)
Liebe Sylvia, auch ich komme gerade aus Armenien, habe dies aber mit einer Tour nach Süden nach Svanetien/Georgien verbunden. Meine inzwischen 4. Reise nach Armenien ist verbunden mit einer Familie, die ich 2015 als Geflüchtete kennengelernt habe. Sie wurde leider 2018 abgeschoben, so halten wir engen Kontakt per WhatsApp oder/und ich besuche sie. Mein schönstes Erlebnis 2021: von Etschmiadsin am Sevan vorbei, die besten Kartoffeln! Armeniens in großen Säcken nebenan auf den Feldern und in die Berge zu den Kühen der Familie, die vor der kommenden Kälte noch draußen Futter fanden!
Dir danke ich für die Neuigkeiten, die du liebevoll beschreibst und die mich neugierig machen. Vielleicht komme ich auch noch einmal nach Meghri. Aber vor allem freut mich dein Engagement für und deine Verbundenheit mit Armenien!
Es grüßt dich Brigitte
P.S. Im Marchanant Hotel in Etchmiadsin gab es im Oktober ein Symposium von 70 bildenden armenischen Künstlern aus vielen Ländern, umrahmt von Schauspielern, Sängern, Tänzern, Schriftstellern….ich durfte als Gast des Hotels dabei sein!
Bärbel Bertuch (Freitag, 03 Dezember 2021 20:55)
Wie schön, endlich wieder etwas aus Armenien zu hören und die wunderbaren Landschaften zu sehen. Immer wieder beeindrückend und fast unvorstellbar schön. Vielen Dank.
Ich habe während des Krieges mit dem Land und den Menschen dort gelitten und bedaure den Ausgang sehr. Aber zumindest durften Sie wieder einreisen und sich ein Bild machen.
Vielen Dank für den Blog in der Hoffnung auf weitere.
Bleiben Sie gesund !!!