Oder: Heimreise Teil Eins
Vor zwei Jahren und zehn Monaten war ich nach einem recht denkwürdigen Flug in Armenien angekommen und schon lange vor meiner eigentlichen Rückkehr ab Ende Juni dieses Jahres hatte ich begonnen, zu überlegen, wie auch meine Heimreise zu einem besonderen Erlebnis werden könnte. Denn inzwischen bin ich nach meinen recht vielen Flugreisen in den letzten Jahren an einem Punkt angelangt, an dem ich Flughäfen nicht mehr ausstehen kann. Und vor allem war ich sehr neugierig auf all das, was zwischen Armenien und Deutschland liegt und von dem ich bisher nur das allerwenigste kannte.
An dieser Neugierde nicht ganz unschuldig war Wolfgang, ein guter Freund von mir, der ebenfalls zwei Jahre in Armenien gearbeitet hat, damals aber mit dem eigenen Auto aus Deutschland kam und so auch wieder zurückfuhr. Er hat mir damit den Floh mit der Rückfahrt mit dem Auto ins Ohr gesetzt. Seit 2016 haben wir immer mal wieder darüber geredet, erst vage, dann langsam aber sicher immer konkreter – und schließlich war es soweit. Ich flog im Januar 2018 nur noch one-way aus dem Weihnachtsurlaub zurück nach Yerevan, Wolfgang tuckerte im Mai mit seinem Wagen in Deutschland los, machte noch ausführlich in Georgien und Armenien Urlaub, ich verschickte einen Großteil meiner Habseligkeiten mit Freunden oder unbegleitet nach Deutschland, so dass wir an einem sonnigen Montag im Juni optimal präpariert in Yerevan starten konnten. Wir hatten zwar eine Route im Kopf und auch ein Zeitfenster (irgendwann geht schließlich jeder Urlaub vorbei), aber vor allem sollte der Weg unser Ziel sein.
Zur sanften Einstimmung ins Reisen und auch zum Abschied aus Armenien fahren wir am ersten Tag nur ins ca. 120 KM entfernte Gyumri, der zweitgrößten Stadt Armeniens. Regelmäßige Leser meines Blogs wird es sicherlich nicht wundern, dass ich hier noch mal einen Stopp einlegen möchte. Als wir am Nachmittag durch die Stadt schlendern, fällt mir auf, dass ich noch nie im Sommer in Gyumri war, die Sonne brennt und wir flüchten uns in den schön schattigen Park der Stadt, nur um dort einige Kuriositäten zu entdecken, etwa ein riesiges, tropisch dekoriertes Lokal mit üppigen Wasserspielen darin.
Abends nehmen wir dann von lieben Freunden Abschied, wobei sich auch ein besonders leckerer Stör vom Leben verabschieden muss, um für die richtige Feststimmung unter uns zu sorgen. Gäbe es einen besseren Ort für mein Abschiedsessen in Armenien als das beste Fischlokal des Landes?
Am nächsten Morgen rollen wir durch üppig grüne Landschaften unserem nächsten Ziel Kars in der Türkei entgegen. Weit mehr Kühe und Schafe als Autos kreuzen unseren Weg, sowohl in Armenien als auch in Georgien und in der Türkei.
Und gleich hinter der armenisch-georgischen Grenze kommen uns besonders exotische Gefährte entgegen – zwei Liegefahrräder! Wir halten an – eigentlich zum Fotostopp – und die beiden Radfahrer auch. Schnell kommen wir ins Plaudern, denn das Ehepaar ist in München losgeradelt und inzwischen über Ungarn, Rumänien, die Ukraine und übers Schwarze Meer bis nach Georgien gekommen. Sie erzählen uns, dass ihr eigentliches Ziel China ist – fast unglaublich, aber wenn man die beiden mit ihren effizient ausgestatteten Rädern so sieht, doch wieder vorstellbar. Wir tauschen gleich noch E-Mail- und Blog-Adressen aus, denn auch die beiden schreiben über ihre Reisen: https://lines-of-the-silkroad.de/.
Auf der weiteren Etappe zeigt sich mal wieder, dass Wolfgang und ich ein gutes Pilot- und Copilot-Team sind. Die Karte ist recht ungenau (Wolfgang hat den neuen Grenzübergang zwischen Georgien und der Türkei darin mit einem Kreuzchen von Hand markiert), das Navi hier ebenso nutzlos und die Beschilderung lückenhaft. Aber er erinnert sich grob an die Route und meint an irgendeiner Kreuzung, dass es nun bald links ab zur Grenze gehen müsste, wir finden allerdings weit und breit keinen Hinweis und fahren daher weiter. Instinktiv drehe ich mich noch mal um und kann gerade noch hinter uns am Straßenrand ein Schild erkennen: „Turkish Border“! „Halt! Dreh um!“ rufe ich und so kommen wir doch noch fast ohne Umwege weiter.
Die Grenzanlage selbst ist dann zwar riesig, aber fast vollkommen leer – kein Wunder, wie soll sie auch von anderen Reisenden gefunden werden. Dem entsprechend fahren wir aus Versehen zum falschen Schalter – für die LKWs – und werden von einem sehr netten türkischen Grenzbeamten persönlich zu Fuß zum richtigen Schalter begleitet, damit wir uns nicht wieder verirren. Während wir dort warten, plaudert er noch weiter mit uns – auf Deutsch – über unsere Reisepläne und gibt uns gute Tipps für die Weiterreise.
Den letzten Umweg des Tages, eine – vermutlich – armenische Kirchenruine auf einer Insel im idyllisch gelegen Çıldır Gölü See, suchen wir uns dann selbst auf der Landkarte, nur aus Neugierde und Ehrgeiz im Kartenlesen.
Kars ist ein quirliges Landstädtchen voller Geschäfte und Restaurants und dazu noch bei unserem Besuch mitten im Wahlkampffieber. Am nächsten Morgen starten wir nicht gleich zur nächsten Etappe, sondern wollen zurück in Richtung armenische Grenze, um die mittelalterliche armenische Hauptstadt Ani zu erkunden. Als wir aus der Hotelgarage fahren, stehen wir jedoch zunächst vor einem Metallzaun, der dort am Tag zuvor noch nicht war und schauen in die verdutzen Gesichter von Sicherheitspersonal und Standbauern, die gerade eine riesige Bühne für eine Wahlkampfkundgebung aufbauen. Doch den deutschen Touristen wird natürlich geholfen. Erst wird jemand mit Englischkenntnissen organisiert, der uns freundlich erklärt, dass wir ein paar Minuten warten müssten, dann wird der Zaun an einer Stelle für uns wieder abgebaut und schließlich auch noch eine überdimensionale Flagge über der Straße zusammengebunden.
Als wir wenig später in Ani ankommen, freuen wir uns zwar über die recht wenigen Besucher, vermutlich hängt dies aber auch mit dem schlechten Wetter an diesem Tag zusammen, es fängt an zu regnen und zu stürmen, so dass bald selbst der Regenschirm nichts mehr nützt. In den Regenphasen sitzen wir daher meist fröstelnd in den Kirchenruinen, die Pausen dazwischen geht es weiter zur nächsten Ruine. Die wenigen anderen Besucher sind dafür umso neugieriger auf uns. In der gewaltigen Kathedrale von Ani, ein himmelstrebendes, fast gotisch anmutendes Bauwerk aus einer Zeit weit vor der Gotik, unterhalten wir uns angeregt mit einigen Deutschtürken aus Frankfurt, die von Ankara aus mit dem Bummelzug über 24 Stunden lang nach Kars gereist sind, um das Land, ähnlich wie wir, aus einer entschleunigten Perspektive zu erleben.
Trotz der etwas widrigen Wetter-Umstände sind wir von Ani in jeglicher Hinsicht extrem beeindruckt. Nicht nur von den vielen kunstvollen Kirchenbauten, Moscheen und Stadtmauern, auch von der spektakulären Lage zwischen zwei Schluchten, dazu kommen die bunten Blumen, die zwischen den Steinen wuchern und nicht zuletzt die vielen Höhlen und schneebedeckten Berge, die die ganze Anlage umgeben.
In der Königsstadt Ani lebten im frühen Mittelalter bis zu 100.000 Menschen, entsprechend blühten Architektur und Handel. Die Stätte wird später durch diverse Eroberer und Erdbeben mehrfach zerstört und gerät fast in Vergessenheit, bevor Ende des 19. Jahrhunderts Ani quasi wiederentdeckt wird. Im 20. Jahrhundert passierte meist wenig, um die Überreste zu bewahren und zu konservieren. Aber seit einigen Jahren haben Restaurierungsarbeiten begonnen. Seit 2016 ist Ani UNESCO-Weltkulturerbe und bei unserem Besuch wird an einigen Ruinen, vor allem an der Kathedrale, fleißig gewerkelt. Auch ein neues Besucherzentrum entsteht gerade.
Nach wie vor frappant bleiben die Diskrepanzen zwischen den Erläuterungstexten zu den Ruinen vor Ort und dem, was man ansonsten, z.B. in Wikipedia, zu Ani findet – dazu kann sich dann jeder Besucher selbst seinen Reim machen.
Von Kars aus fahren wir drei lang Tage lang weiter auf perfekt ausgebauten vierspurigen Schnellstraßen durch Anatolien bis nach Istanbul – der Grenze zwischen Asien und Europa. Wir erleben grandiose Landschaften, wunderbare Gastfreundschaft und meist sehr entspanntes Reisen. Ab und zu biegen wir bewusst von der Schnellstraße ab, um landschaftlich schöne (in der Landkarte grün markierte) Strecken abzufahren, auch auf die Gefahr hin, dass unser Navi vollends durchdreht, uns auf Feldwege schickt und wir dann mit Hilfe der Landkarte und den Straßenschildern wieder die Route finden müssen.
Ich lerne unterwegs ganz instinktiv viel über die Türkei, die Weite des Landes, die sichtbaren enormen baulichen Fortschritte in den letzten Jahren – und mache im Thermalhotel in Kurşunlu eine interkulturelle Erfahrung der besonderen Art. Wolfgang hat das Hotel aus früheren Stopps in guter Erinnerung, daher steuern wir es erneut an. Wir werden herzlich empfangen, Wolfgang wie ein alter Freund begrüßt. Gleich nach dem Einchecken zeigt er mir den Weg zum Schwimmbad – glaubt er. Aufgeregt rennt der Hotelpage hinter mir her und erklärt mir mit deutlichen Gesten, dass ich einen anderen Eingang nehmen müsse. Die Damenumkleide – denke ich – dem ist aber nicht (nur) so. In der Umkleide treffe ich viele türkische Frauen, alle voll bekleidet und mit Kopftuch verhüllt, aber keine zieht sich dort um – zumindest nicht, während ich dabei bin. Ich steige trotzdem in meinen Badeanzug und ziehe bald glücklich meine Bahnen. Eine von zwei Bademeisterinnen in pinken pyjamaartigen Anzügen und Kopftuch überreicht mir dazu eine ebenso pinke Stoffbadekappe. Nach und nach wundere ich mich, wo mein Reisebegleiter bleibt, bis mir langsam dämmert, dass die gesamte Anlage – zwei Schwimmbecken, Sauna und Hamam – nur für Frauen reserviert ist! Beim Abendessen erzählt mir Wolfgang, dass ihm irgendwann die gleiche Erkenntnis kam. Zwei praktisch identische, recht großzügige Badebereiche, in denen aber in beiden Teilen außer uns keiner wirklich schwimmt, Frauen, die selbst im exklusiven Damenbereich mit Vollkörperanzug und Kopftuch im (Heißwasser-)Becken liegen – ich komme mir an diesem Ort schon sehr, sehr fremd vor. Natürlich gibt es in dem Hotel abends auch keinen Alkohol (ich fühle mich ja schon fast wie ein Alkoholiker, wenn ich das nur schreibe).
Dass wir nichtsdestotrotz mit unserem Aufenthalt dort sehr zufrieden sind, liegt sowohl an der wunderbar gepflegten Anlage als auch an den überaus freundlichen Angestellten. So bringt uns der Kellner aus dem Restaurant abends um zehn Uhr einfach so noch einen Teller leckere Kirschen als Betthupferl aufs Zimmer.
Nicht nur der Alkohol ist knapp auf der Reise durch Anatolien, noch schmerzlicher – auch körperlich – vermisse ich den Kaffee, vor allem in seiner italienischen Ausprägung. Zwar trinke ich gerne auch mal ein Gläschen Schwarztee mit Zucker, aber nach vier Tagen fast ausschließlichem Tee-Trinken habe ich das Gefühl, dass ich gar nicht mehr richtig wach werde, obwohl die Reise an sich gar nicht so anstrengend ist. Jede Zelle meines Körpers ist spürbar auf Koffein-Entzug und ich hoffe sehr, dass die weiteren Reise-Etappen wenigstens in dieser Hinsicht erfolgreicher werden.
Doch zunächst verlassen wir Asien zwischen zwei Mega-Staus rund um Istanbul. Ausgerechnet auf der Brücke über den Bosporus fließt aber der Verkehr, so dass diese schöne Überfahrt recht schnell wieder vorbei ist. Insgesamt fahren wir dreieinhalb Stunden um die Metropole herum, dies entspricht ungefähr der Flugzeit Yerevan – Wien. Trotzdem bin ich nach wie vor sehr, sehr froh, diese Route gewählt zu haben!
Im nächsten Blog-Artikel werde ich dann über den europäischen Teil unserer Reise berichten, die uns in weiteren fünf Tagen durch neun Länder führte.
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