Mit den Wölfen schlafen …

Garni-Tempel
Garni-Tempel

Anfang Juni hatte sich wieder Besuch aus Deutschlands Südwesten bei mir in Armenien angemeldet und die Reiseagentur Silvia wurde erneut aktiv. Denn inzwischen höre ich des Öfteren von meinen Freunden den Scherz, dass ich, wenn ich irgendwann beruflich mal keine Alternative mehr hätte, auch eine Reiseagentur aufmachen könnte.

Bis dahin plane ich nur in der Freizeit erneut ein Programm, um in acht Tagen möglichst viel von Armenien zu sehen und zu erleben – sowohl im Hinblick auf die verschiedenen Regionen als auch auf unterschiedliche Sehenswürdigkeiten.

Wir beginnen mit den bekannten Highlights im Süden, die fast jeder Armenien-Tourist abklappert: Der Tempel von Garni, die Klöster Geghard, Chor Virab, Noravank und Tatev (mit einer Fahrt in der längsten Seilbahn der Welt), gefolgt von der Selim-Karawanserei und dem Sevan-See, zudem als kleiner Abenteuer-Abstecher über die Schotterpiste zum Kloster Gndevank. Besonders die grandiosen armenischen Landschaften, im Juni meist noch saftig-grün, begeistern meine Freunde sehr, gerne verbunden mit einer kleinen Zwangspause unterwegs inmitten einer Schafherde.

Doch als ich sie am Ende der Reise frage, was sie in Armenien am meisten beeindruckt hat, nennen sie nicht eben jene Hauptattraktionen, sondern die Namen von zwei Menschen, die wir im zweiten Teil der Reise kennen gelernt haben:

Beim Jäger Shakro am Lake Arpi

Jäger Shakro und seine Pferde
Jäger Shakro und seine Pferde

Da meine Freundin zwar sehr kulturinteressiert ist, aber eine ebenso große Natur- und Tierliebhaberin, organisiere ich für uns eine Übernachtung bei einem Jäger zu Hause in der Nähe des Lake Arpi. Dieser See im Nordwesten Armeniens ist ein Naturschutzgebiet und ein Vogelparadies, gerade im Frühjahr und Frühsommer. Der See liegt auf ca. 2.000 Metern Höhe, so dass der Frühling hier recht spät ankommt und im Juni noch im vollen Gange ist. Im letzten Jahr war ich um dieselbe Zeit dort, leider nur für ein paar Stunden, und hatte damals schon beschlossen, dass ich hier wieder hin muss, aber dann besser etwas länger. 

Schafherde im Dorf Ardenis
Schafherde im Dorf Ardenis

Über eine armenische Reiseagentur organisiere ich nun diese Unterkunft. Der Jäger Shakro lebt im Dorf Ardenis, nur wenige Kilometer vom Lake Arpi entfernt, aber noch ein wenig höher gelegen, auf 2.100 Metern. Shakro nennt es Armenisch-Sibirien, denn bei unserer Ankunft nachmittags um 5 Uhr zeigt das Thermometer gerade noch 11 Grad, nachts fällt es auf den Gefrierpunkt. Im Winter herrschen hier wochenlang minus 40 Grad. 

 

Bis wir Shakro finden, haben wir allerdings schon das halbe Dorf erkundet. Leider kann ich mich aus dem Vorjahr nicht mehr genau an sein Haus erinnern und Google Maps bringt uns auch nur in die Nähe. Aber hier kennt jeder jeden, wir fragen zwei Jungs nach Shakro und sie erklären uns mit Händen und Füßen den Weg. Als wir dann doch nicht so genau in die richtige Richtung fahren, rennen sie uns rufend und winkend hinterher. Wir halten an, sofort geht hinten die Wagentür auf und die beiden Jungs springen auf den Rücksitz, ich habe gerade noch Zeit, beiseite zu rutschen. Vom Rücksitz aus zeigen sie uns den Weg: Ja, mitten durch die Wiese, nicht dem Schotterweg folgen. Inzwischen kommt uns Shakro schon entgegengefahren, die armenische Reiseagentur hatte ihn per Handy verständigt, dass wir ihn suchen. So übersichtlich wie das Dorf ist, kann sich hier keiner verstecken, schnell finden wir uns und folgen seinem Kleinbus.

Meine Freundin beäugt ein wenig skeptisch die kleinen Häuschen und hofft nun, dass wir vor einem größeren Anwesen halten. Nun, wir stoppen vor einem geräumigen Haus mit einem Welpenzwinger daneben und einem Pferd mit Fohlen auf der Wiese, was will die Tierfreundin mehr. Mit den Hunden, einschließlich der Mutter der Welpen, schließt sie augenblicklich Freundschaft. 

Im Haus gibt es noch mehr Tiere. Shakro ist ein erfolgreicher Jäger und das zeigt sich auch in den Gästezimmern. Als er uns die Zimmer zeigt, ist meine Freundin zunächst geschockt: Der Raum ist mit einem ganzen Ensemble ausgestopfter Tiere dekoriert, gekrönt von einem recht furchteinflößenden Wolf. Nein, hier will sie nicht schlafen … Aber es gibt noch ein zweites Zimmer, beruhige ich sie. Allerdings steht auch hier ein zähnefletschender Wolf vor dem Doppelbett. Doch ihr Freund reagiert sofort, den stellen wir ins Eck - dann muss sie ihm nicht in die Augen sehen, wenn sie ins Bett geht. 

Einen armenischen Kaffee später sind wir dann bereit für eine Erkundung der Umgebung. Shakro zeigt uns die Überreste einer früheren armenischen Siedlung, eine Kirche mit Mühle am Fuß des Hügels, oben gab es auch noch eine Festung. Zudem beobachten wir Vögel an einem kleinen See hinterm Haus – und lassen vor allem diese grandiose Weite der Natur auf uns wirken. 

Irgendwann ruft uns Shakros Frau ins Haus. Sie hat schon das Abendessen vorbereitet. Es gibt „das Übliche“, also Brot, Tomaten, Gurken und Käse, davon vieles hausgemacht, dazu Kartoffeln und Lammfleisch, natürlich von den eigenen Lämmern. 

Nach dem Essen erklärt uns Shakro, dass die Wölfe vor allem im Winter von den Hügeln herunter kommen und die Schafe reißen. Daher ist in Armenien das Schießen von Wölfen erlaubt, es gibt sogar Prämien von der Regierung dafür, erzählt er. 

Und in einem Land, in denen die Bauern oftmals noch Subsistenzwirtschaft betreiben und es auch keine Ausfallversicherungen für sie gibt, ist so eine Wolfsattacke auf das Vieh auch für die Menschen existenzbedrohend.

Abends schlafe ich ganz friedlich mit Blick auf ein Wolfshinterteil ein und werde morgens von meinem Handy-Wecker aus einem tiefen und erholsamen Schlaf gerissen. Meine Freunde erzählen mir, dass sie nachts Hundegebell und angeblich sogar Wolfsheulen gehört haben. Ob das alles real war oder nur fantasievolle Träume aufgrund der anregenden Umgebung, wer weiß …

Das Frühstück geht übrigens so herzhaft weiter wie es am Abend zuvor geendet hatte. Nach Brot, Tomaten, Gurken, Käse und eigenem Honig folgt nämlich noch ein zweiter Gang: Chinkali in der Brühe, natürlich eine große Portion. Chinkali sind georgische gefüllte Teigtaschen, die hier, nahe an der georgischen Grenze, auch sehr beliebt sind, die Füllung besteht erneut aus Lammfleisch. Während meine Freunde mit ihren Suppentellern kämpfen (die Vegetarierin darf weiter Honigbrot essen), kommen die Nachbarinnen nach dem Schafe melken zum Kaffeetrinken vorbei und bestaunen uns unauffällig auf dem Weg in die Küche. 

Erst als rein gar nichts mehr in den Magen passt, dürfen wir uns verabschieden und fahren weiter zum Lake Arpi, an Blumenwiesen und Bächen vorbei bis zum Vogelparadies.

Gyumri entdecken mit Alex

Nach noch mehr Naturerlebnissen entlang des Akhurian Flusses treffen wir irgendwann Mittags wieder in Gyumri ein. Es ist bereits mein vierter Besuch in der Stadt, gerade die Altstadt hat es mir angetan. Gyumri hat einen ganz eigenen Charme, eine Mischung aus Urbanität, Eleganz, Stil und Kultur, gepaart mit Melancholie einerseits und Aufbruchsstimmung andererseits. Immer noch gibt es viele Ruinen und Verfall zu sehen, gleichzeitig entdecke ich bei jedem Besuch in der Stadt wieder deutliche Fortschritte. Und je besser ich die Stadt kenne, umso mehr bemerke ich diese jahrhundertealte städtische Kultur, die sich hier immer noch bewahrt hat bzw. wiederbelebt wird. Daher habe ich mir als letzten Programmpunkt der Reise einen persönlichen Wunsch erfüllt und eine Stadtführung durch Gyumri organisiert. 

Wir haben Glück, denn der Leiter der Reiseagentur, Alex Ter-Minasyan, hat Zeit, uns seine Stadt zu zeigen und zu erklären – kaum vorstellbar, dass jemand mehr über Gyumri weiß als er. So viele Dinge, die ich schon kenne und gesehen habe, beginne ich nun auch zu verstehen. 

Meine Freunde sind ebenso begeistert von den vielen spannenden Geschichten über Orte und Familien, die er uns erzählt. So zeigt er uns ein Kunstwerk an der Außenwand der Muttergotteskirche. Es stellt das Auge Gottes dar, das auf alle Religionen gleichermaßen blickt. Diese Symbolik kann man sich als aufmerksamer Beobachter gerade noch zusammenreimen, doch die Geschichte, die er dann erzählt, nicht mehr. Der Bischof von Gyumri hatte eigenmächtig die Genehmigung erteilt, ein modernes Kunstwerk in eine armenische Kirche zu integrieren, ein bis dahin beispielloser Akt. Es regt sich Widerstand in der armenisch apostolischen Kirche, eine Kommission reist an, die über das Kunstwerk tagen soll, ob es bleiben darf oder nicht. Als die Kommission eintrifft und das Kunstwerk erblickt, sind sie so ergriffen, dass die geplante Sitzung allerdings sofort wieder abgesagt wird. 

Auch am nächsten Tag auf dem Rückweg nach Yerevan reisen wir einen Teil des Weges zusammen mit Alex und meine Freunde nutzen jede Gelegenheit, ihn unterwegs erneut über Land und Leute zu befragen. 

Es ist ihr letzter Tag in Armenien, nachts fliegen sie schon zurück. Der Abschied fällt ihnen schwer, nicht nur vom Land, sondern vor allem auch von den Menschen hier.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0