Von meinen Erlebnissen im Kaukasus zu berichten fiel mir bisher immer sehr leicht. So viele schöne Begegnungen und Erlebnisse, Landschaften und Genüsse, da war lediglich die Auswahl manchmal schwer. Nach meiner Rückkehr von meiner Studienreise zu den Armeniern im Iran ging es mir jedoch ganz anders. Mehrere Iran-Kennerinnen und -Kenner hatten mir en détail eingeschärft, worüber ich auf keinen Fall schreiben dürfe, nicht nur um meiner selbst willen, sondern auch zum Schutz meiner Gastgeber. Viele Dinge, sowohl sehr schöne als auch umso irritierendere, kann ich hier also gar nicht schildern, meine Meinung zu so Einigem noch umso weniger.
Doch der Iran ist für viele Menschen im Westen so fremdartig und unbekannt, das Leben der armenischen Minderheit dort noch umso mehr, dass immer noch genügend Berichtenswertes für mich übrigbleibt, Hunderte von Fotos kommen dazu.
Es begann vor einigen Monaten mit einer Einladung zum zweiten Armenologie-Symposium der armenischen Diözese zu Aserbaidschan, Iran. Neben vielen ausgewiesenen Experten der armenischen Sprache, Kunst und Kultur darf ich mit meinem Beobachtungsbericht über die armenische Gesellschaft für den “bunten” Teil des Programms sorgen. Die Veranstaltung ist eingebettet in ein Exkursions-Programm in und um Täbriz zu Weltkulturerbestätten der Armenier, Museen, Seen und Bergen, dazu noch Karawansereien und Basaren, was der bunte Orient eben so zu bieten hat.
Nur fünf Tage bin ich im Iran, im Rheinland reicht dies von Weiberfassnacht bis Rosenmontag. Daran werde ich auch ziemlich schnell erinnert, als ich im Flugzeug kurz vor der Landung in Täbriz, zusammen mit allen anderen Frauen an Bord, meine Haare einwickle. Besonders bei der Hitze juckt der Stoff auf dem Kopf andauernd, die Frisur wird unschön zerdrückt und zwischendurch habe ich das Gefühl, mein Schädel platzt gleich vor Wärme, die sich - bei bis zu 30 Grad im nicht immer vorhandenen Schatten - darunter staut. Das alles lässt sich für mich nur mit rheinischem Frohsinn ertragen. Ich erinnere mich daran, dass ich im Karneval auch gerne mit Perücke unterwegs bin, die manchmal fast noch mehr juckt. Und wie ein echter Karnevalist jeden Tag das Kostüm wechselt, so wechsle ich jeden Tag die Farbe der Kopfbedeckung, gerne auch passend zum Programm - grün zum grünlich schimmernden Wasser des Urmia-Sees, blau zur blauen Moschee in Täbriz oder weiß zum Kloster-Besuch.
Am Morgen des ersten Besuchstages geht es mir im Hotel zunächst wie so manches Mal in der Türkei: Tee aus dem Samowar steht grenzenlos zu Verfügung, aber kein Kaffee, noch nicht einmal in der Instant-Variante. Auf dem Weg zur ersten Besichtigung des Tages wird daher nicht nur für unser Mittags-Picknick eingekauft, sondern auch noch eine Koffein-Dosis für mich organisiert, die ich nach dem Nachtflug besonders dringend benötige.
Unsere beiden armenischen Begleiter kümmern sich perfekt um die kleine Gruppe. Ischchan, ein alter Freund von mir, hat das Armenologie-Symposium organisiert und mich auch dazu eingeladen. Den Satz aus der Überschrift - “Wir kriegen alles hin” - schrieb er mir nicht nur des Öfteren während der Vorbereitungen, sondern gebraucht ihn auch immer wieder während unserer Reise - und jedes Mal behält er natürlich Recht. Vor Ort wird er unterstützt von der Armenierin Katrin, die sich nicht nur bestens auskennt, sondern auch stets gut gelaunt und wo notwendig recht energisch alles Organisatorische für uns erledigt.
Unser erstes Ziel des Tages ist das Thaddäus-Kloster, an der Stelle gegründet, an welcher der Apostel Judas Thaddäus seinen Märtyrertod gefunden haben soll. 2008 wurde es zur UNESCO-Weltkulturerbestätte erklärt, nicht nur wegen der herausragenden Architektur, sondern auch aufgrund der Wallfahrt, die dorthin schon seit den fünfziger Jahren jedes Jahr im Sommer stattfindet. Tausende von Armeniern, sowohl aus der Region als auch aus dem Nachbarland Armenien und der ganzen Welt, kommen am Tag des hl. Thaddäus dort zusammen, campieren in den Hügeln rund um das Kloster, feiern Gottesdienste, machen davor und danach aber auch ausgiebig das, was Armenier besonders gut können: Grillen, musizieren, singen und tanzen - übrigens die Frauen allesamt ohne Kopftuch. Auch deshalb ist es in dieser Zeit den muslimischen Iranern verboten, sich dem Gelände zu nähern, nur Armenier und andere christliche Besucher sind erlaubt.
Weiter geht es anschließend durch großartige Landschaften, die dem Süden Armeniens recht ähnlich sind, auch Schafherden und Obstbäume ziehen an uns vorüber. Schließlich schrauben wir uns bei Maku eine Pass-Straße den Hügel hinauf und haben Glück: Es ist Berg-Tag, nur ein klein wenig im Dunst und mit einem weißen Wolkenschleier um den Gipfel herum zeigt sich uns der Ararat. Von der “anderen” Seite wirkt der Berg noch ein wenig symmetrischer, wie immer erhaben und wunderbar. Viele schöne Erinnerungen an Berg-Tage auf der armenischen Seite schießen mir durch den Kopf, alleine abends auf den Cascaden in Yerevan oder mit Freunden und Familie beim Kloster Chor Virap am Fuß des Berges. Nun kommt eine weitere Erinnerung dazu: Der Ararat in der Abenddämmerung, davor eine riesige Schafsherde, die sich zufrieden durch das raschelnde Gras futtert und sich von den seltsamen Besuchern fast gar nicht stören lässt.
Zurück fahren wir stundenlang durch die Dunkelheit, unterbrochen durch das Abendessen und gelegentliche Stopps an Polizeistationen. Für mich gibt es Fisch mit Reis, die geschmackliche Abrundung dazu ist ein Stückchen Zitrone. Messer gibt es nicht, die sind im Iran beim Essen unüblich, erklärt man mir. Als ich doch nach einem Messer frage, bringt mir der Kellner ein noch tropfnasses riesiges Küchenmesser mit pinkem Griff. Das erleichtert mir das Zerlegen des ganzen Fisches doch erheblich.
Damit sind meine Mahlzeiten in den nächsten fünf Tagen in iranischen Restaurants bereits komplett zusammengefasst. Überall gibt es dasselbe, zwar qualitativ gut zubereitet, aber geschmacklich doch recht langweilig. Die Highlights bilden die Mahlzeiten in der armenischen Gemeinde, dort werden wir - wie ich es erhofft hatte - sehr abwechslungsreich und üppig verköstigt.
Ich erinnere mich an den Besuch eines deutschen Kollegen aus Teheran, der im Juni eine Konferenz in Yerevan besuchte. Er wähnte sich unter den Armeniern wie im Schlaraffenland und hatte über die Restaurantszene in der iranischen Hauptstadt nichts Aufregendes zu berichten.
Zudem wundern mich die quasi stündlichen Halte an den Polizeistationen. Jedes Mal steigt der Fahrer mit einem dicken Packen an Papieren aus, die er dort vorlegen muss. Gelegentlich kommt auch ein Polizist zur Inspektion zu uns in den Bus herein. Ich frage mich, ob dies bei allen westlichen Besuchern so vor sich geht. Ischchan berichtet mir, dass Individualtouristen durchaus alleine durch die Landschaft fahren könnten, die Kontrollen dienten wohl weniger uns, sondern mehr dem Fahrer. Man sei besorgt um die westlichen Besucher und deren Sicherheit.
Der nächste Tag führt uns zum Urmia-See, einem der drei armenischen Seen, die zwischen sich in groben Zügen das Gebiet des antiken Großarmenien aufspannen: Der Sevan-See in Armenien, der Van-See in der Türkei und schließlich der Urmia-See im Iran. Wenn man diesen Namen googelt, dann schlägt einem die Suchmaschine automatisch als Ergänzung “ausgetrocknet” vor. Denn erst im August hat ein Twitter-Bild des inzwischen zu einem Zehntel seiner ursprünglichen Fläche geschrumpften Sees, veröffentlicht von einem russischen Kosmonauten, das mediale Sommerloch gefüllt. Entsprechend apokalyptisch präsentiert er sich uns, von weiten Teilen des Salzsees ist nur noch eine dicke weiße Salzschicht übrig. Trotzdem wird investiert, Ischchan berichtet uns, dass die Tretboote in Schwanenform bei seinem letzten Besuch im Vorjahr noch nicht da waren. Wir paddeln in brütender Hitze ein wenig durch die grün schimmernde Brühe und lassen die unwirkliche Szenerie um uns herum auf uns wirken.
Zwei Museumsbesuche und eine Kirchenbesichtigung komplettieren unseren Tag in der Stadt Urmia, erst im Dunkeln fahren wir am See entlang wieder zurück nach Täbriz.
Für den nächsten Tag kündigt uns Ischchan den Besuch seines armenischen Lieblingsklosters - im Iran zumindest - an und wir fragen uns, was unsere bisherigen Eindrücke noch toppen könnte. Auch soll ich eben dort mit meinem Vortrag das Symposium abschließen, entsprechend aufgeregt fahren wir los in Richtung des Arax-Flusses und des drei-Länder-Ecks Iran - Aserbaidschan - Armenien.
Kurz hinter der Grenzstadt Jolfa erreichen wir den Fluss und besichtigen zunächst noch eine Karawanserei und eine kleine armenische Kapelle. Von der Terrasse der Kapelle aus kann man über den Fluss auf das andere Ufer sehen. Unterhalb der roten Felsen deutet Ischchan auf drei Hügel. Dort befindet sich seit einigen Jahren ein Truppenübungsplatz der aserbaidschanischen Armee. Um „Platz“ dafür zu schaffen, wurden zuvor tausende von Kreuzsteinen, armenischen Chatschkars, zerstört und teilweise in den Fluss geworfen. Dadurch ist der armenische Friedhof von Jolfa zu einer ganz besonderen traurigen Berühmtheit gelangt, wie sie etwa auch auf Wikipedia nachzulesen ist.
Im Dezember 2015 war ich in Yerevan zu einer Buchpräsentation eingeladen, worin die erste fotografische Dokumentation dieser Stätte Anfang des 20. Jahrhunderts festgehalten wurde. Einige besonders eindrucksvolle Fotos aus dem Buch wurden bei der Präsentation auf Staffelleien vergrößert gezeigt. Sowohl die damaligen Ausmaße des Feldes als auch die Schönheit der Chatschkars auf den alten Schwarz-Weiß-Bildern sind mir seitdem in Erinnerung geblieben.
Weiter rollen wir am Arax Fluss entlang, bis wir irgendwann links eine bewaldete Schlucht hinauffahren und auf einem Parkplatz anhalten. Wir haben das Kloster St. Stephanos erreicht, das sich allerdings noch zwischen den Bäumen vor uns versteckt hält. Nach einigen weiteren Metern Aufstieg erspähen wir zwischen den Blättern und hinter hohen Mauern schließlich den beige-roten Tambour des Klosters. Obwohl die Kirche derzeit außen und innen an vielen Stellen aufwendig renoviert wird, sind wir sehr beeindruckt von der Schönheit der Architektur und der Feinheit der Ornamentik. Ischchan geht es in St. Stephanos so wie mir in den Klöstern Tatev oder Noravank in Armenien: So oft dagewesen und trotzdem schleicht sich immer wieder ein neues, schönes kleines Detail in den Blick. St. Stephanos ist aber nicht nur architektonisch beeindruckend. Da die restliche Anlage schon wieder weitgehend fertig renoviert ist, kann man einen guten Eindruck des früheren mönchischen Lebens dort gewinnen. Und in einem dieser Räume, ausgestattet mit moderner Technik, findet unser Armenologie-Symposium schließlich ihr stimmungsvolles Ende.
Nun bleiben mir zwei Tage, um auch etwas von Täbriz zu sehen und mehr Alltagsleben im Iran mitzubekommen als bisher bei stundenlangen Busfahrten. Auf den allerersten Blick wirkt die Stadt auf mich eher langweilig und gesichtslos: Viele Beton-Neubauten mit den üblichen Handy-Shops oder Boutiquen darin. Doch schon nach kurzer Zeit entdecke ich viele ästhetische Details, die zusammen der Stadt einen heiteren Charme geben. Dies fängt mit vielen einladenden Konditoreien, Gewürz-Läden und Saft-Bars an, geht mit bunt bemalten Stromkästen weiter und hier und da haben sich auch noch schöne alte gelbe Backsteinhäuser zwischen den Neubauten erhalten.
Wir schlendern durch die Straßen der Innenstadt bis zum großen Basar, der es übrigens 2010 ebenfalls in die UNESCO-Weltkulturerbeliste geschafft hat. Schon auf dem Weg dahin schlängeln wir uns zwischen den Straßenhändlern rechts und den Läden links über die Bürgersteige. Praktisch alles, was man zum Leben so braucht, kann man auch direkt auf der Straße kaufen – nicht nur Lebensmittel oder Bücher, sondern etwa auch Schnürsenkel, Gießkannen oder Teepötte. Ich frage mich zwischendurch, was es denn darüber hinaus überhaupt noch auf dem Basar geben wird. Nun, dies alles und noch viel mehr. Karren voller Obst versperren fast jede Kreuzung der Gewölbegänge, praktisch im Sekundentakt rennen die Händler mit Schubkarren voller Säcke und Packen an uns vorüber. Im Basar kann man z.B. seine Wohnung prächtig dekorieren, seine Hochzeit üppig ausstatten oder auch Stoffe zum selber Nähen und sogar Wolle zum Spinnen erwerben.
Wir als ein Grüppchen von ganz wenigen westlichen Besuchern im Basar sind für die Einheimischen neben den Waren eine weitere Attraktion. Viele Frauen lächeln mich und meine Reisegefährtinnen an, manche strahlen über das ganze Gesicht und die ganz Mutigen bzw. Englischsprachigen plaudern auch ein wenig mit uns. Meist mit dem Satz „Welcome to Iran!“ am Anfang und Ende jedes Gesprächs. Von ihnen fühlen wir uns ehrlich herzlich aufgenommen.
Vom männlichen Teil der Bevölkerung können wir dies leider weniger berichten. Oftmals werden wir ignoriert, während sie sich mit dem männlichen Teil der Gruppe nach ähnlichem Schema unterhalten. Manchmal werden wir auffällig gemustert, so dass wir uns dabei alle nicht recht wohl fühlen. Und sehr wenige Sprachkundige probieren den Satz „Hello, come with me“ im Flüsterton aus. Ob sie ernsthaft mit irgendeiner Reaktion gerechnet haben, wird uns ein Rätsel bleiben.
Zur von uns empfundenen Ignoranz habe ich in Armenien schon gelernt, dass auch dort in konservativeren Kreisen fremde Frauen aus besonderem Respekt und Höflichkeit heraus nicht immer angesprochen werden. Die anderen beiden Phänomene kenne ich aus dem Kaukasus zum Glück weniger.
Zu guter Letzt dürfen wir in Täbriz nicht nur shoppen, sondern auch noch weitere architektonische, museale und kunsthistorische Highlights bewundern: Vor allem das schöne Rathaus aus den dreißiger Jahren, welches ein wenig an den Jugendstil erinnert, die prächtige blaue Moschee und nicht zuletzt das archäologische Aserbaidschan-Museum. Im Kontrast zum Basar, den Einkaufsstraßen oder auch dem Flohmarkt, den ich noch kennenlerne, bilden die Kultur-Stopps dazwischen für uns Reisende absolut notwendige Oasen der Ruhe und Schönheit.
Wobei der Garten der armenischen Diözese für uns alle eine ganz besondere Oase ist: Duftende Rosen und spielende Kätzchen, dazwischen gut behütete Kreuzsteine unter schattigen Bäumen machen es mir ganz einfach, mich zu entscheiden, was für mich der schönste Ort von Täbriz ist.