Ein fast unerträglich heißer Samstag im Rheinland im August: Mit meiner Freundin bin ich ins Thermalbad mit Außenbecken und schattigem Saunagarten aufgebrochen, um halbwegs entspannt die Hitze des Tages zu überstehen. In der Umkleidekabine piepst mein Handy, eine Nachricht kommt rein. Besser das Handy im Spind lassen und auf Stumm schalten, wenn wir im Bad sind, denke ich, schaue dann aber doch nach, wer mir Samstagmittag schreibt. Ungläubig lese ich meinen Posteingang: Eine Literaturagentur hat mich kontaktiert, ob ich mir vorstellen könnte, das Thema „Armenien“ in der Reihe „111 Gründe, dieses und jenes zu lieben“ zu beackern!
Im Bademantel auf der Bank in der Umkleide kann ich diese Frage spontan nicht beantworten, auch die spätere Diskussion mit meiner Freundin im Saunagarten bringt mir nicht viel mehr Klarheit. Anfangs kommt mir das Ganze noch recht unwirklich vor. Weitere E-Mails, ein langes Telefonat, noch mehr E-Mails und ein paar Probetexte später kann ich mir dann langsam vorstellen, so ein Projekt anzugehen. Obwohl ich mich anfangs, mittendrin und vermutlich bis zum Ende fragen werde, ob ich wirklich genug Wissen und Erfahrung dafür mitbringe, auch wenn ich drei Jahre in Armenien gelebt und gearbeitet habe. Glücklicherweise ist das “111 Gründe“ Format für Freizeit-Blogger wie mich recht dankbar. Denn ich werde ja keinen aktuellen Reiseführer schreiben, auch keinen umfassenden Wälzer über Landeskunde, sondern „eine Liebeserklärung an das schönste Land der Welt“. Liebe ist ja bekanntermaßen sehr subjektiv, so dass ich mir die schönsten, lustigsten und natürlich liebenswertesten Aspekte aussuchen kann.
So kommt es, dass ich mich viel früher als jemals geglaubt erneut zum Kurzurlaub in Armenien wiederfinde. Statt eine Woche auf einer Nordseeinsel zu entspannen, wie ich es eigentlich vorhatte, sitze ich Anfang November mal wieder in einem Nachtflug nach Yerevan. Diesmal allerdings in vollkommen privater Mission: Bibliotheken, Buchhandlungen und Museen stehen auf meiner to-do-Liste, ehemals berufliche Kontakte werden systematisch danach abgeklappert, ob und wie sie mich nun bei meinem Projekt unterstützen können.
Es ist ein zugleich recht merkwürdiges und auch sehr schönes Gefühl, fast eine Woche in Yerevan zu verbringen, ohne arbeiten zu müssen. Denn zuvor hatte ich dort nie eine ganze Woche lang nur Freizeit. Wenn Besucher da waren, dann haben sie die Stadt meist allein oder mit Begleiterinnen besichtigt, die ich für sie organisiert hatte. Währenddessen habe ich im Büro schneller, vor- und nachgearbeitet, um ein paar Tage für Fahrten durchs Land freizuschaufeln. Und wenn ich selbst Urlaub hatte, wollte ich diesen in Deutschland bei Familie und Freunden verbringen.
Nun ist das ganz anders, zwischen meinen Verabredungen kann ich mich einfach durch die Stadt treiben lassen und tun und lassen, wonach mir der Sinn steht. Ich beginne in meinem „Wohnzimmer“ an den Kaskaden: Im Cafesjian Center for the Arts stöbere ich in der kleinen, aber feinen Bibliothek nach interessanten und originellen Büchern über Kunst, Kultur, Architektur und was mir sonst noch gefällt. Ein Freund hatte mir mal erzählt, dass er dort oft zum Lesen und Arbeiten war, nun kann ich mir diesen schönen Ort auch als Arbeitsplatz aussuchen.
Eigentlich steht als Nächstes das Museum für Stadtgeschichte auf meiner Liste, doch als ich dort Sonntagnachmittag ankomme, muss ich feststellen, dass es am Wochenende geschlossen hat. Ein seltsames Museum, das man zwar montags besuchen kann, aber sonntags nicht. Zum Glück gibt es noch viel mehr Museen in Yerevan, die ich nicht kenne. Denn eigentlich gehe ich nur bei schlechtem Wetter ins Museum. Da das in Yerevan nicht so oft vorkommt, bleibt auch noch nach drei Jahren viel für mich übrig. So stehe ich kurze Zeit später vor der Nationalgalerie, die sich das Gebäude am Republiksplatz mit dem Historischen Museum teilt. Im armenischen ersten Stock (wir würden Erdgeschoss sagen) befindet sich die Kasse für das Historische Museum, im zweiten (resp. ersten) Stock die Kasse und der Museumsladen für die Nationalgalerie. Etwas ratlos stehe ich anschließend mit meinem Ticket im Flur und frage mich, wo denn nun die Bilder sind. Eine der energischen Museumswärterinnen in strenger Uniform winkt mich heran, schiebt mich hinten rechts in einen winzigen Aufzug, drückt das oberste Stockwerk und verschwindet wieder. Die Tür schließt sich, ruckelnd und ächzend bewegt sich der Aufzug, der mindestens so alt ist wie das Gebäude, nach oben. Plötzlich bleibt er mit einem heftigen Ruck stehen und für zu viele Millisekunden tut sich erst mal gar nichts. Irgendwann geht doch noch die Tür auf und ich kann mich neun großen Sälen an Gemälden aus Armenien und aller Welt widmen.
Und was soll ich sagen, der Besuch hat sich zweifelsohne gelohnt. Denn nun habe ich auch einen armenischen Lieblingsmaler namens Vardges Surenyants. Er lebte und malte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, seine Bilder erinnern mich ein wenig an Gustav Klimt, Alfons Mucha oder auch die Präraffaeliten in Großbritannien. Besonders seine Salomé aus dem Jahr 1907 hat es mir angetan. Ungemein elegant und gleichzeitig provokant schaut sie auf die Besucher herab. Geschickt wurde das Bild so weit oben an der Wand platziert, dass ihr Gesicht weit über den Betrachtern schwebt und ihren arroganten Blick noch verstärkt.
Über breite Treppen wieder unten beim Shop angekommen, stöbere ich noch durch das gesamte Sortiment und finde viele interessante Werke auf Deutsch und Englisch, welche die – sehr gut Deutsch sprechende – Verkäuferin mir zeigt. Ich frage sie auch nach Surenyants. Über ihn gibt es leider nur ein armenisch-russisches Buch. Ich kaufe es trotzdem auch noch, da es viele Bilder enthält und ich zumindest die Namen der Werke auf kyrillisch entziffern kann.
Abgesehen von aufgefrischten Freundschaften, vielen Ideen sowie einem Koffer voller Bücher und Essbarem an der 23KG Grenze nehme ich aber noch etwas besonders Schönes aus Yerevan mit: Ein Gefühl von Dynamik und positiver Aufbruchsstimmung, das fünf Monate nach der Samtenen Revolution nicht nur in den Köpfen und auf den Gesichtern der Menschen liegt, sondern auch überall in der Stadt greifbar ist. Schon auf dem Weg zum Begrüßungsessen mit armenischen Freunden fällt mir das Gewusel in der Innenstadt auf. Die Tumanyan-Straße zwischen Oper und der Fußgängerzone ist voller Menschen, auch vielen Touristen, und das im November. Zwischen den bekannten Lokalen entdecke ich viele neue Läden und Restaurants, sowohl Traditionelles als auch Originelles. Das Lokal, in dem wir essen, ist voller denn je, die Kellner noch flotter, die Restaurantchefin noch aufmerksamer und neben dem Eingang an der Straßenecke hat man neuerdings eine Showbäckerei mit Straßenverkauf eingerichtet. Dort nehme ich mir gleich noch armenischen Gata-Kuchen in Miniform zum Frühstück mit.
Auf dem Heimweg kommen wir am Parlament und am Präsidentenpalast vorbei. Mein armenischer Freund erzählt mir, dass die neue Regierung beide Orte nun für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Tagsüber sind die hohen Metallgittertore offen und die Bürger können im Park um das Parlament spazieren gehen oder sich den Präsidentenpalast von ganz nahe anschauen. Das mache ich dann auch wenige Tage später. Der Präsidentenpalast ist nur wenige Schritte von meinem alten Büro entfernt und wirkte zwar immer schon imposant, gleichzeitig aber auch abweisend und er war natürlich streng bewacht. Als ich an einem Sonntagvormittag ankomme, sind die Tore offen, ein paar Bürger stehen mit den Polizisten vor dem Palast und halten ein Schwätzchen. Sicherheitshalber frage ich eine Polizistin, ob ich fotografieren darf, sie nickt. Direkt vor dem Palast hat man zwei Wachhäuschen platziert, die in ihrer Aufmachung und Farbgebung ein wenig improvisiert wirken, aber ihren Zweck erfüllen und nun für mehr Bürgernähe sorgen als die Gitter zuvor.
Ich frage meine armenischen Freunde, ob mich mein Eindruck täuscht oder ob sie dies auch so empfinden. Ja, sie beobachten dieselbe Entwicklung, erzählen sie mir. Viele Leute wollten schon seit Jahren ein Geschäft eröffnen, einen Laden, ein Restaurant oder vielleicht auch nur als Straßenmusiker etwas dazuverdienen. Doch unter der alten Regierung waren solche Pläne wenig erfolgversprechend, daher haben es viele gar nicht erst versucht. Nun wird sehr viel ausprobiert, manches scheitert auch sehr schnell wieder, andere aber sind erfolgreich.
Es wird also spannend bleiben, wie in den nächsten Monaten die Entwicklung in Armenien weiter geht. Daher bin ich umso glücklicher, dass ich nun 111 Gründe habe, mir all das in nächster Zeit genauer anzuschauen.
Kommentar schreiben
Michael (Sonntag, 25 November 2018 22:45)
Ein sehr schön geschriebener Beitrag, liebe Silvia :) Ich habe die Lektüre genossen - wenn wir im Januar zurück nach Armenien kommen, werde ich mir auf jeden Fall auch mal die Gemäldesammlung ansehen. Liebe Grüße!