Viele bunte Erinnerungen!

Sommerfrische in Gyumri

Berlin Art Hotel, Gyumri
Berlin Art Hotel, Gyumri

Ende Juni bin ich in Yerevan zu einer Buchpräsentation eingeladen. Eigentlich ist dies nicht meine liebste Reisezeit für Armenien, denn dann kann es in der Hauptstadt und auf der Ararat-Ebene schon sehr heiß werden. Also beschließe ich, vor der Präsentation noch einige Tage in Gyumri zu verbringen. Die Stadt liegt 500 Meter höher als Yerevan, dort ist es im Juni kühler und angenehmer, ein ideales Ziel für ein wenig Sommerfrische. Und in meiner Lieblingsunterkunft in Gyumri, dem Berlin Art Hotel, ist Entspannung garantiert, dank der Mischung aus Kultur und Gastfreundschaft, wechselnden Ausstellungen und lauschigem Biergarten.

Statue von Kirk Kerkorian
Statue von Kirk Kerkorian

Als ich an einem Samstagmittag nach meinem Nachtflug noch ein wenig schlapp durch die Innenstadt schlendere, merke ich rasch, dass sich Gyumri als Ausflugsziel im Sommer inzwischen herumgesprochen hat: Die Fußgängerzone ist so voll, wie ich sie noch nie zuvor bei meinen diversen Besuchen seit 2016 erlebt hatte. Bald entdecke ich einige der neuen Attraktionen, die man den Gästen nun bietet: Schauspieler-Paare in historischen Kostümen mit überdimensionalen Schaumstoff-Köpfen auf den Schultern laufen dekorativ auf und ab. Das kommt offensichtlich gut an, die Leute stehen Schlange, um sich mit den lebenden Puppen fotografieren zu lassen. Wer etwas erhöht und mit eingebauter Vorfahrt durch das Gewühl pflügen möchte, kann sich für zehn Minuten eine Art Fahrrad-Kutsche mieten. Das Gefährt mit vier Rädern, zwei Bänken und Sonnendach erinnert ein wenig an eine indische Rikscha, nur zum selbst fahren. Laute armenische Popmusik schallt durch die Straße, am Ende der Fußgängerzone findet gerade auch noch ein Kinderfest statt. 

Erlöser-Kirche, Gyumri
Erlöser-Kirche, Gyumri

Das Gewühl und der Lärm überfordern mich zunächst in meinem müden Zustand. Daher flüchte ich nach einem stärkenden Kaffee mit Kuchen erst mal über den Vartanants-Platz zur Erlöser-Kirche gegenüber. Viele Jahre ist diese Kirche nach dem Erdbeben 1988 außen und innen renoviert worden, seit einiger Zeit ist das Baugerüst außen schon abgebaut. Doch bei einem meiner letzten Besuche 2018 konnte man von den Arbeiten an der Innendekoration nur durch Löcher im Bauzaun ein wenig erahnen. Heute habe ich Glück, die Baustelle ist geöffnet. Zwischen Planen, Bautür und Steinhaufen gelange ich in den Innenraum. Weit, hell und kühl öffnet sich die Kirche, weiß gekalkte Wände, dunkelgraue Säulen und golden-bunte Fresken bringen mich zum Staunen. In einer Seitennische ist ein kleiner Altar aufgebaut, die armenischen Besucher kommen nicht nur zum Schauen, sondern auch zum Beten vorbei. Später erzählen mir meine armenischen Freunde, dass ich Glück hatte, nur selten ist die Baustelle mal am Wochenende geöffnet, denn trotz der sichtbaren Fortschritte bleibt noch viel zu tun. 

Stadtmuseum Gyumri
Stadtmuseum Gyumri

Weiter geht es mit Sehenswürdigkeiten, die ein wenig Kühle versprechen. Seit langem steht das Nationalmuseum für Architektur und städtisches Leben auf meiner Bucket List. Schon allein das prächtig-bunte Gebäude, das ich bisher nur durch den Zaun erspähen konnte, gehört zu den größten und schönsten Häusern der Stadt und machte mich neugierig. Drinnen kann man in der Ausstellung bewundern, wie die Menschen in diesen und ähnlichen Häusern im 19. Jahrhundert gelebt haben und woher der Wohlstand der Stadt kam – nämlich von vielen kunstfertigen Handwerkern, die hochwertige Waren herstellten, welche in der gesamten Region bekannt und begehrt waren. Besonders spannend finde ich dabei das Thema Mode, also Kleider, Hüte und Schuhe. In Gyumri mischten sich die Kulturen, aus Europa und Russland kamen die europäische Mode und westliche Modelle wie Mieder und Zylinder. Daneben wurden auch traditionelle armenische Gewänder und Kappen gefertigt. Die armenischen Handwerker hatten alles im Programm und gingen mit der Zeit. Bald übernahmen die Schneider zum Beispiel nicht nur westliche Schnittmuster, sondern auch Nähmaschinen, von Gyumri aus verbreitete sich die Mechanisierung des Handwerks weiter in der gesamten Region. Daher finden sich im Stadtmuseum auch Singer-Nähmaschinen und modische Ornamentvorlagen aus Stuttgart. 

Ganz allein bin ich bei meinem Rundgang nicht, vor mir darf sich eine Schulklasse weiterbilden und nach mir schlendert eine weitere Gruppe Armenierinnen durch die Räume. Dazwischen erwische ich eine Lücke, die groß genug ist, um mir alles in Ruhe anzusehen und die englischen Erläuterungen zu lesen. 

Nach getaner touristischer Arbeit ist die Sonne ein wenig gesunken, auf den Schattenseiten der Straßen kann ich nun in der Kühle des späten Nachmittags weiter durch die Straßen wandern. Ein Freund, dem ich meine Schnappschüsse aus Gyumri schicke, durch das wir oft gemeinsam geschlendert sind, schreibt mir zurück: „Viele bunte Erinnerungen!“. Ich schaue daraufhin erneut durch meine Bilder, ja, Gyumri ist noch bunter geworden! Wortwörtlich und im übertragenen Sinn. Das fängt mit Blumen, Büschen und Bäumen an, die in schmalen Grünstreifen neben den Straßen gepflanzt wurden und in der Sommerwärme von den Anwohnern morgens und abends sorgfältig gegossen und gepflegt werden. Dazu kommen kleine bunte Kunstwerke und versteckte Street Art als heitere Farbtupfer. 

Galerien, Souvenir-Läden, Werkstätten, Museen, Boutique-Hotels, Bars und Cafés, so viele neue Orte entdecke ich, jede Menge Spannendes hat sich seit meinen letzten Besuchen in Gyumri getan. 

Galerie B612, Gyumri
Galerie B612, Gyumri

Eine regenbogenbunte Tür, daneben ein Schallplattenspieler, der 70er-Jahre-Musik spielt, lockt mich zum Beispiel in die B612 Galerie gleich gegenüber der Erlöser-Kirche.

Armenische Mode- und Schmuckdesignerinnen, Maler und Bildhauer stellen hier ihre Werke aus, zum Schauen, Staunen und Kaufen. Ein netter Galerist führt mich durch die kühlen Souterrain-Raume und erzählt mir Hintergründe zu den Künstlern und Designerinnen.

Modellbau-Werkstatt
Modellbau-Werkstatt

Als ich die Galerie verlasse, rät mir der Galerist, auch noch oben im ersten Stock vorbeizuschauen, da sei eine interessante Werkstatt. Neugierig öffne ich die schwere alte Wohnungstür und staune noch mehr. Der große, hohe Raum ist angefüllt von bunten Flugzeugmodellen an den Wänden, in der Mitte Werkbänke. Kinder und Jugendliche wuseln durch die Räume, bald erklärt mir ein etwa zehnjähriger Junge, der offensichtlich stolz auf sein flüssiges Englisch ist, dass sie hier lange und hart an diesen Modellen arbeiten würden. Einer der Trainer ergänzt, dass sie erst an den Rechnern die Modelle entwerfen und sie in Simulationen auf Flugtauglichkeit testen, danach wird gebaut. Auch erste Auftragsarbeiten haben sie schon bekommen, die Werkstatt floriert. Ermöglicht hat dies unter anderem die Armenisch-Apostolische Kirche, erklärt er mir. Denn ihr gehört das Gebäude, welches sie nun ohne Miete der Werkstatt überlässt. Staunend folge ich ihm durch die weiteren Räume, viele Kinder verbringen hier einen spannend-bunten Samstagnachmittag.

TUMO Center for Creative Technologies
TUMO Center for Creative Technologies

Als ich wieder auf der Straße stehe, fällt mir ein, dass ich 2018 die Baustelle des neuen TUMO Centers von Gyumri im Stadtpark gesehen hatte und mache mich auf den Weg, um zu schauen, ob das neue TUMO in Gyumri nun fertig ist. Die TUMO Zentren für kreative Technologien sind sozusagen die Mütter aller modernen armenischen Bildungs- und Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche und zudem ein erfolgreiches Exportmodell in andere Länder. Bei TUMO lernen Kinder und Jugendliche kreativ und selbstbestimmt, spielerisch werden sie gefordert und gefördert. Sie probieren sich zunächst in über einem Dutzend Feldern, den Lernzielen, aus, von Programmierung und Robotik über Design bis hin zu Film und Musik. Wenn sie gezeigt haben, dass sie erfolgreich selbst lernen und sich motivieren können, haben sie die Chance, ihr Wissen in einigen von ihnen selbst gewählten Feldern zu vertiefen und, unterstützt von Trainern, ihre eigenen Projekte auszuprobieren und zu verwirklichen.

 

Bald finde ich das neue TUMO-Gebäude, das 2020 eröffnet wurde. Wobei es nicht vollkommen neu ist, der Bau integriert das Haus des Volkes aus dem 19. Jahrhundert, das eine ebenso spannende wie wechselvolle Geschichte hinter sich hat. Die weiße Stuckfassade wird nun gekrönt von einem neuen, korallenroten Stockwerk sowie einem spektakulär verspiegelten Dach. Auf der Dachterrasse schaue ich von oben durch Dachfenster in die Säle unter mir, am späten Samstagnachmittag sind alle Plätze besetzt, auch hier trifft sich Gyumris Jugend.

Wie viel mehr TUMO und andere Bildungsprojekte für Jugendliche bedeuten, als die Langeweile in der Freizeit zu vertreiben, das erzählt mir ein guter armenischer Freund zwei Tage später. Er leitet neben dem Berlin Art Hotel in Gyumri auch noch eine Lodge in dem kleinen Dorf Krashen in den Bergen, eine halbe Stunde von Gyumri entfernt. Zwar entwickelt sich das Dorf nun zu einem beliebten Startpunkt für Langlauf im Winter und Wandern im Sommer, aber sicher werden nicht alle der etwa zwanzig Schulkinder des Dorfes später mal im Tourismus ihre Zukunft finden. Was kann also junge, begabte Leute an diesem Ort halten, trotz aller ländlicher Idylle? Wie kann das Aussterben der Dörfer und des ländlichen Raums verhindert werden? Nun, inzwischen fahren sechs Jungen und Mädchen aus Krashen zweimal in der Woche nach der Schule ins TUMO Center und lernen dort weiter. Jedes Mal wollen sie noch länger bleiben, noch mehr entdecken und ausprobieren, erzählt er mir. Dazu passt, dass sich derzeit eines der Mädchen aus dem Dorf als die begabteste im spielerischen Wettbewerb im TUMO Center Gyumri erweist. 

Momentan leben zwei geflüchtete Familien aus Russland und Belarus im kleinen Dorf Krashen, die IT-Spezialisten können dort, auch dank schnellem Internet (mit den Verhältnissen in der deutschen Provinz nicht vergleichbar), in der Lodge komfortabel arbeiten und sich in den Bergen erholen. Digitale Fähigkeiten aller Art sind daher gerade für die armenische Provinz die Chance, jungen Menschen Hoffnung und Perspektiven für ihre Zukunft zu bieten.

Dorf Krashen, Provinz Shirak, Armenien
Dorf Krashen, Provinz Shirak, Armenien
Pilgerort für armenische Cineasten
Pilgerort für armenische Cineasten

Gleich neben dem TUMO Center in Gyumri wird inzwischen einem weiteren bekannten alten Gebäude ebenfalls neues, kreatives Leben eingehaucht, wenn auch derzeit noch viel improvisierter. In Sichtweite des weiß-rot-spiegelnden TUMO Gebäudes tummeln sich die armenischen Touristen unter dem vergammelten Holzbalkon einer Ruinenfassade und versuchen, sich gegenseitig in kreativen Selfies zu übertreffen. Im 19. Jahrhundert wohnten hier standesgemäß reiche Kaufleute, nun verstecken sich Straßenhunde in der Ruine. Mitte der Achtzigerjahre wurde in dem Gebäude und auf dem großen Balkon die in Armenien berühmte Tragik-Komödie „The Tango of Our Childhood“ gedreht. Die weibliche Hauptfigur, eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern, die von ihrem Mann für ihre beste Freundin verlassen wurde, zeigte (im Video ab 15:15) auf diesem Balkon einen ihrer Temperamentsausbrüche.  "Varem Marem" ruft sie mit rollendem "R", sich hin und her wiegend,  aufgebracht vom Balkon herunter. Das bedeutet so viel wie (Licht) ein- und ausschalten im lokalen armenischen Dialekt.

Nach ihren legendären Tiraden „Varem Marem“ ist nun das neue kleine Kunst-Studio direkt gegenüber benannt. Auch hier lockt ein Plattenspieler mit Musik vor der Tür die Kundschaft, drinnen werden neben Kunst zudem kreative Workshops für Kinder geboten, Kühlschrankmagneten mit der berühmten Balkonszene und ein Kaffee-Fenster vervollständigen die touristische Infrastruktur. Ein klein wenig hat man seit meinem letzten Besuch auch die Ruine baulich gesichert, nur wann sie jemals richtig renoviert wird, das steht noch in den Sternen. Aber mit Kaffee, Musik und Kunst macht der alte Balkon jetzt schon noch mehr Spaß.

Restaurant "Florence", Gyumri
Restaurant "Florence", Gyumri

Weiter tragen mich meine inzwischen müden Beine durch die Straßen, ohne die vielen Trinkbrunnen der Stadt wäre ich sicher nicht so weit gekommen. Daher ist es nun Zeit für mich, das letzte bunte Highlight des Tages anzusteuern, das Restaurant „Florence“. Auch im Hinterhof dieses Lokals ist alles bunt dekoriert, angefangen bei den Stuhl-Kissen über die Keramikteller an den Wänden bis hin zum leckeren armenischen Salat. 

So leer, wie es auf den Bildern scheint, war das Lokal übrigens gar nicht. Denn laute Musik, verbunden mit der Abendfrische im Hof, treibt die Gäste ins Innere. Dort dröhnt es in ohrenbetäubender Lautstärke aus den Lautsprechern, von Shakira über russischen Pop bis hin zu Folk-Musik meiner armenischen Lieblingsband Nemra:

Die armenischen Jugendlichen tanzen dazu in Kreisen durch das Lokal, auch internationale Gäste werden dabei aufgesammelt und mitgenommen. Wir müssen uns also keine Sorgen machen, dass die armenische Jugend zu Computer-Nerds mutiert, eine Runde Tanzmusik genügt immer, um sie schnell von den Stühlen zu reißen. 

Blick auf Gyumri
Blick auf Gyumri

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