Mein armenisches Gesundheitszeugnis: Ein Drama in zwei Akten

Erster Akt: Komödie

Prolog: Sekretariat

In diesen Tagen steht die Verlängerung meiner Aufenthaltserlaubnis hier in Armenien an. Im letzten Jahr war dies sehr unkompliziert, in diesem Jahr hat sich das Verfahren geändert und ist nun mit intensiverem Eintauchen in die armenische Bürokratie verbunden. Vor allem das Gesundheitszeugnis scheint in dieser Hinsicht eine Herausforderung darzustellen, wie uns einige andere Deutsche, die es schon hinter sich haben, berichten. Man muss dafür eine Poliklinik aufsuchen, diese sind Teil des öffentlichen Gesundheitssystems, in dem Armenier – und auch Ausländer – kostenlos behandelt werden. Also tun wir hierfür uns zu dritt zusammen, meine Freundin, ihr Ehemann und ich. Ohne armenische Verstärkung, in der Hoffnung, dass der „Ausländerbonus“ dann voll zur Entfaltung kommt. 

Wir machen uns also eines Nachmittags zur Poliklinik auf, die uns als Anlaufstelle für alle Ausländer genannt wurde. Angeblich werden wir dort von englischsprachigem Personal erwartet und alles geht ganz schnell und unkompliziert. Wir kurven durch die Stadt und finden schließlich das Gebäude, das von außen eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Bundeskanzleramt (der „Waschmaschine“) aufweist, nur eben in Yerevaner Pink statt weiß.

Nun, Englisch kann in dieser Klinik praktisch niemand, dem wir begegnen. Meine Freundin dolmetscht dauernd zwischen Russisch und Deutsch hin und her. Dies beginnt in der Anmeldung im fünften Stock, wo wir kurz warten müssen. Der Flur sieht recht abenteuerlich aus, ein auseinanderfallender Schreibtisch steht vor einer riesigen, offensichtlich schon lange nicht mehr geputzten Fensterfront und quillt vor Kakteen über. Pflanzen und Staub in Krankenhausfluren …

Im Sekretariat empfangen uns zwei Damen in weißen Kitteln. Sie sitzen zwischen uralten, dunkelbraunen Schrankwänden, die fast überquellen. Auf ihren Schreibtischen stehen zwar keine Computer oder zumindest Schreibmaschinen, dafür nachmittags um halb vier ein kleiner Imbiss und – natürlich – Kaffeetässchen. Nach ungefähr einer dreiviertel Stunde, gefüllt mit langen Diskussionen über unsere Vor-, Nach- und Vatersnamen, die in armenischen Buchstaben auf unsere Untersuchungshefte und Laufzettel gemalt werden, können wir bereits mit den diversen Untersuchungen beginnen. 

Erster Aufzug: Augenuntersuchung

Wir finden uns in einem gelb-kuscheligen Untersuchungszimmer wieder. An einer Wand ist ein barocker Koffer mit verschiedenen Linsen aufgeklappt. An einer anderen Wand hängt die übliche Leuchttafel mit Buchstaben zum Vorlesen, daneben Kreise für die Analphabeten. Die Buchstaben sind kyrillisch. Diese kann ich zwar so halbwegs lesen, aber in so einer Situation? Ich entscheide mich für die Kreise, notgedrungen. Mit dem Daumen zeige ich an, ob der Kreis oben, unten, links oder rechts eine Öffnung hat. Ich schaffe zwar nicht alle Reihen, bekomme aber trotzdem einen Eintrag in mein Heftchen – lesen kann ich ja sowieso nicht, was dort auf Armenisch steht.

Zweiter Aufzug: Psychologie

Im nächsten gelb-gemütlichen Raum sitzen mehrere Damen zusammen, die ebenfalls gerade beim Nachmittagsimbiss sind. Eine Dame füllt die Heftchen aus, die andere plaudert mit meiner Freundin, wo sie denn so schön Russisch gelernt habe. Nach kurzer Zeit bekommen wir schon unsere Heftchen zurück und fragen ein wenig erstaunt, ob das denn schon alles war: „eto wsjo?“ „da, wsjo“. Ja, das war in der Tat alles. Wir vermuten, dass die vespernde Dame mit den Fragen die Psychologin war, sicher sind wir uns aber nicht. Also psychologisch alles ok.

Dritter Aufzug: Hals-Nasen-Ohren-Arzt

Nun kommen wir in einen etwas größeren Raum, der mit einem Waschbecken im Eck an eine Arztpraxis erinnert, wenn nur nicht auch noch der Fernseher gleich daneben laufen würde. Während eine Dame in die Heftchen schreibt, werden wir ernsthaft befragt: Sind wir gesund? Haben wir irgendetwas mit den Ohren, der Nase oder dem Hals? Gesten der Dame machen sogar mir klar, was das Thema der Unterhaltung ist, während meine Freundin übersetzt. Klar, wir sind alle total gesund! „eto wsjo?“ „da, wsjo“. Und weiter geht’s.

Vierter Aufzug: Der Chirurg

Nun wird es ernst, wir kommen in ein Vorzimmer, von dem aus wir ins Büro des Chirurgen geführt werden. Dieser Mann ist der dickste Mensch, den ich bisher in Armenien jemals zu Gesicht bekommen habe. Er muss in seinem Bürostuhl mit Armlehnen vorne auf der Kante sitzen, da er in den Sitz zwischen den Lehnen offensichtlich nicht mehr hineinpasst. Auch seine Oberarme haben unglaubliche Ausmaße. Sein Schreibtisch ist bedeckt mit einer Zeitung, hier stören wir also auch die Nachmittagsmuße. Unsere Heftchen liegen bald auf der Zeitung und werden wortlos, aber zügig ausgefüllt und uns wieder in die Hand gedrückt. Wir sind erstaunt: „eto wsjo?“ „da, wsjo“. 

Epilog: Sekretariat

Mit unserer Ausbeute an Einträgen wandern wir wieder ins Sekretariat zurück. Dort sitzt inzwischen auch noch eine ältere armenische Patientin und diskutiert mit einer der Sekretärinnen. Das ist aber kein Problem, wir können trotzdem eintreten und bekommen nun den Blutdruck gemessen. Unsere Werte sind der anderen Patientin nun auch bekannt, da sie uns gleich auf Russisch angesagt werden. Wenigstens können wir nicht verstehen, was sie auf Armenisch besprochen hat.

 Schließlich wird uns angekündigt, dass wir am nächsten Morgen noch mal wiederkommen müssen und zwar nüchtern, zum Bluttest. Wir protestieren, es sollte doch alles ganz schnell gehen und wir hätten keine Zeit. Dies hilft aber leider alles nichts, wir bekommen erklärt, dass wir am nächsten Morgen um 9 Uhr im Laboratorium zu sein hätten. Notgedrungen verabreden wir uns für den nächsten Tag erneut zum zweiten Akt.

Zweiter Akt: Tragödie

Prolog: Informationsaustausch

Am nächsten Morgen wühlt sich unsere kleine Schicksalsgemeinschaft erneut durch den Yerevaner Berufsverkehr zur Poliklinik. Wir haben die Zwangspause genutzt, um uns bei anderen Deutschen weitere Informationen über den Rest der Prozedur zu verschaffen, angeblich stehen uns ja noch ein Bluttest und das Röntgen bevor. Zum Bluttest kann meine Freundin beitragen, dass ein anderer Deutscher gegen Zahlung einer Servicegebühr von ca. zwei Euro den Eintrag ins Untersuchungsheftchen schneller bekam – nämlich ohne Blutabnahme. Wir diskutieren, ob wir dies im Zweifelsfall machen wollen oder nicht und beschließen, erst mal zu sehen, was uns erwartet.

Ich habe zudem erfahren, dass wir die Röntgenuntersuchung mit ziemlicher Sicherheit nicht ablegen müssen – wir legen uns hierfür entsprechende Argumente zurecht, meine Freundin schlägt sicherheitshalber noch mal relevante russische Vokabeln dafür nach, so dass diese Diskussion später auch sitzt. 

Fünfter Aufzug: Urintest oder nicht?

Der Kaffeebecher
Der Kaffeebecher

Wir erreichen das Laboratorium. Ein düsterer Flur mit kaputten Fließen, zwischen denen der Beton zum Vorschein kommt, führt zunächst in den ersten Raum, in dem unsere Laufzettel empfangen werden. Hier hängt ein altmodisches Emaille-Waschbecken an der Wand, aus dem permanent Wasser rauscht. Auf dem Schreibtisch daneben steht ein kleines, ebenso altmodisches Mikroskop.

Meine Freundin beginnt, die Dame hinter dem Mikroskop zu befragen, ob wir denn hier richtig seinen für die Blutuntersuchung. Diese bejaht dies und bittet sie zudem, ihren Kaffeebecher bei ihr abzustellen. Meine Freundin hat sich nämlich in weiser Voraussicht einen Milchkaffee mitgebracht, um denselben gleich nach der Blutabnahme, die ja nüchtern erfolgen muss, zu trinken. Dann beginnt eine Diskussion um den Thermosbecher, die wir zunächst überhaupt nicht verstehen. Die Dame spricht von „Macho“, eine Vokabel, die meine Freundin nicht kennt und das Online-Wörterbuch lediglich mit eben jenem männlichen Macho übersetzt. Die Verwirrung ist groß. Meine Freundin erklärt, dass sie sich Kaffee mitgebracht habe. Die Diskussion geht noch eine Weile hin und her, schließlich wird klar, dass die Dame wissen möchte, ob wir Urinproben mitgebracht hätten. Haben wir nicht, das hören wir zum ersten Mal!

 Nach dieser recht fruchtlosen Diskussion werden wir schließlich in den Raum nebenan zur Blutabnahme geschickt. Offensichtlich benötigen wir doch keine Urinprobe …

Sechster Aufzug: Der Zuckertest

In diesem Untersuchungszimmer stehen zwei Schreibtische, darauf jeweils ein Sammelsurium an Reagenzgläsern in Holzmenagerien, Plastiktöpfchen mit Watte, diversen Schälchen und braunen Fläschchen. Zwei Laborantinnen sitzen hinter den Schreibtischen. Meine Freundin setzt sich todesmutig auf den Stuhl neben dem einen Schreibtisch und die Prozedur beginnt, ein Zuckertest wird uns angekündigt. Ihr Mann und ich beobachten nun genau, insbesondere, ob wir mit der Sterilität des Prozesses einverstanden sind. Er erzählt, was er kürzlich über Krankenhauskeime gelesen hat. Ich denke mit Schrecken, was mir eine Freundin in Deutschland über eine unheilbare Infektionskrankheit berichtet hat, die sie nach einer nicht sterilen Behandlung aus Indien mitgebrachte. Zunächst wird die Fingerkuppe mit einem Wattebausch und Alkohol desinfiziert, dann ein Messerchen aus einer Papierverpackung herausgenommen. Das Blut beginnt zu tropfen. Nun greift die Dame neben sich, zieht eine riesige, ca. 30 cm lange Glaspipette aus einem viel kleineren braunen Papierumschlag und fängt damit an dem Messerschnitt das Blut auf. Ich kann kaum glauben, was ich sehe … Nachdem ich wieder fähig bin, etwas zu sagen, ist die Prozedur schon fast vorbei, ich flüstere nur fassungslos: „Das mach ich nicht.“ Meine Freundin hat inzwischen einen Wattebausch mit Alkohol auf ihrem Schnitt an der Fingerkuppe und ist ebenfalls sichtlich erschrocken, was hier gerade passiert ist. Trotzdem schafft sie es, den Damen zu erklären, dass ihr Mann, der die Sachlage so sieht wie ich, mit diesem Verfahren nicht einverstanden ist. Nach einigem Hin und Her werden kleine Glasträgerplatten geholt. Ich schaue nun zu, was bei ihrem Mann gemacht wird. Die Laborantin drückt kräftig an seinem blutenden Finger herum und tropft das Blut auf die Trägerplatte. Davon nimmt sie anschließend das Blut in die Pipette ab und macht ihren Test. Schließlich spende auch ich zwei Tropfen Blut, um feststellen zu lassen, dass ich natürlich nicht zuckerkrank bin. Wir sind alle recht erschüttert und wollen nun gehen.

Siebter Aufzug: Der allgemeine Test

Doch wir kommen nicht weit. Direkt vor der Tür auf dem Flur werden wir wieder hereingerufen, nun fehle noch der allgemeine Bluttest. Für was genau? Allgemein! – aha … Diesmal setzt sich der Mann meiner Freundin mutig zuerst auf den Stuhl vor dem zweiten Schreibtisch und wir beobachten, was passiert. Erneut wird seine Fingerkuppe mit einem Messer aus der Papierverpackung geritzt. Die Laborantin hält seinen Finger fest und holt mit der anderen Hand ein Reagenzglas aus der Menagerie neben sich. Vehement zieht er seine Hand zurück, so hat er sich das nicht vorgestellt! Daran schließt sich eine etwas längere und unangenehme Diskussion über die Sterilität der Reagenzgläser und des gesamten Prozesses an. Schließlich ist klar, dass wir die Untersuchung an dieser Stelle abbrechen, wir drücken uns auf den Flur und kehren zur Anmeldung des Laboratoriums zurück. Wir beschließen, jetzt doch ein Gespräch über Servicegebühren aufzunehmen. Meine Freundin beginnt, mit der Dame hinter dem Mikroskop zu plaudern. Unauffällig verlassen wir das Zimmer und lassen sie alleine und diskret weiter verhandeln. Schließlich kommt sie erleichtert aus dem Raum, die Blutuntersuchung ist für uns beendet, wir werden unsere Einträge bekommen. In gelöster Stimmung wandern wir zu unseren Sekretärinnen hinauf.

Achter Aufzug: Röntgen oder nicht röntgen

Nachdem wir diese schwierige Klippe umschifft haben, ist die letzte Hürde umso leichter. Erneut sitzen wir in dem dunklen Holzkabinett mit einer der beiden Sekretärinnen zusammen. Im leichten, aber bestimmten Plauderton erklärt meine Freundin, dass es eine Absprache von offizieller Seite gebe, dass wir keine Röntgenuntersuchung machen müssten. Die Dame zieht ihre Kostümjacke aus, einen professionellen weißen Kittel an und verschwindet in Richtung Chefarzt, um sich in dieser Hinsicht rück zu versichern. Wenig später ist sie schon wieder da, alles sei in Ordnung. Wir müssten lediglich unterschreiben, dass wir auf die Röntgenuntersuchung verzichten. Und am nächsten Tag könnten wir dann unsere Gesundheitszeugnisse abholen, ganz sicher. „eto wsjo?“ „da, wsjo“. Wir können unser Glück kaum fassen und fahren enorm erleichtert davon.

Epilog

Später erzählen wir unseren armenischen Kolleginnen von unseren Erlebnissen. Sie erklären uns, dass jeder Armenier, der es sich irgendwie leisten kann, Labortests in privaten, modernen

Einrichtungen machen lässt und auch wenn immer möglich Privatkliniken aufsucht – das wundert uns nun umso weniger. Und wir erfahren auch endlich, was es mit dem Macho und dem Kaffeebecher auf sich hatte: Eine etwas korrektere Aussprache und eine richtige Betonung der Laborantin und wir hätten im Wörterbuch „Mochá“ gefunden, was Urin bedeutet, nicht „Mácho“. Und nun ist uns auch endlich, Stunden später, richtig klar, warum die Laborantin so interessiert an dem Thermosbecher war, sie dachte, wir hätten darin eine Urinprobe mitgebracht ...

Die Übergabe der Gesundheitszeugnisse am nächsten Tag klappte übrigens tatsächlich reibungslos und unserem weiteren Aufenthalt in Armenien steht nun hoffentlich nichts mehr im Wege.

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Kommentare: 2
  • #1

    Henriette (Sonntag, 02 Oktober 2016 16:53)

    Haha! Fantastisch! Ein gelungenes Drama, hoffentlich ohne Fortsetzung! ;-)

  • #2

    Frauke (Mittwoch, 12 Oktober 2016 17:59)

    Welch eine Prozedur... Gut, dass Ihr das Gesundheitszeugnis nun habt :-). Bis zum nächsten Jahr gibt es dazu hoffentlich neue Regeln.